Eine Farblose Geschichte.pdf

  • Uploaded by: jc40346
  • 0
  • 0
  • January 2021
  • PDF

This document was uploaded by user and they confirmed that they have the permission to share it. If you are author or own the copyright of this book, please report to us by using this DMCA report form. Report DMCA


Overview

Download & View Eine Farblose Geschichte.pdf as PDF for free.

More details

  • Words: 11,854
  • Pages: 19
Loading documents preview...
Eine farblose Geschichte I Ich erinnere mich an den Tag der ersten Begegnung, an den Morgen, als ich aufwachte, nach zu wenig Schlaf. Ich hatte nur etwa neunzig Sekunden Fußweg bis zu meiner Arbeit, durchgängig überdachten und geheizten Fußweg außerdem, aber leider begann meine Arbeit diese Woche schon zehn Minuten nach sechs Uhr, und so mußte ich fünf Minuten vor Sechs Uhr aufstehen, wollte ich nicht zu spät kommen. Also den Wecker ausschalten, sich aufsetzen, die Brille aufsetzen, um die restlichen Kleidungsstücke zu finden, die Unterwäsche, die frisch gekochte und gebügelte Uniform. Hinaus in die Welt, in den Flur. Draußen war es noch finstere Nacht, aber die Straßenlaternen beleuchteten den ersten Schnee des beginnenden Winters. Die Luft wirbelte die Schneeflocken in hypnotisierenden Strömen um die Neonsonnen der Laternen herum, und ich dachte mir, daß ich mir das heutige Datum merken könnte, daß ich dann das Datum des Tages wüßte, an dem es das erste Mal in diesem Halbjahr geschneit hat. Inzwischen ist mir das Datum jenes Tages längst entfallen, ich erinnere mich nur noch, daß der Monatstag eine Primzahl war, einsam und unteilbar. Ich nehme an, danach habe ich mit den Schwestern Kaffee getrunken wie an jedem Tag der Frühschicht, aber eben weil es wie an jedem anderen Tag war, fehlt mir jede Erinnerung daran. Ich trank ihn in jenen Tagen ohne Milch und ohne Zucker. Nie wieder mußte ich seither so früh aufstehen, und nie wieder seither habe ich regelmäßig Kaffee getrunken. Aber es wird vielleicht Zeit, daß ich von dem flüchtigen Höhepunkt jenes Tages erzähle, der erst durch die Ereignisse der folgenden Tage und Jahre seine Bedeutung erhielt. Ich fuhr mit dem großen Lastaufzug hinunter in den Keller, hinab in das neblige Reich der Bademeister und Physiotherapeuten und den Köchen mit ihren Mützen und Schürzen und den Wäscherinnen, die die Flügelhemden der Patienten und die Dienstkleidung des Personals wuschen. Der Boden und die Wände waren gekachelt wie in einer unterirdischen und schäbigen Metzgerei, und an den Decken verliefen Heizungsrohre. Wie von dienstbeflissenen, aber scheuen und deshalb unsichtbaren Dämonen gebracht stand der Wagen mit den Essenstabletts der Patienten da, jedes Tablett mit einer Patientenkarte versehen, denn beinahe jeder Patient erhielt sein eigenes Essen, und der Wagen insgesamt mit der Nummer unserer Station versehen. Ich schob den schwer lenkbaren Wagen mit der Aufschrift, die mich vor dem Einklemmen der Hände warnte, in den Aufzug , und drängte mich selbst in die verbleibende Lücke zwischen Essenswagen und Aufzugswand. Da huschte noch eine Person durch die Aufzugstür und fragte: „In welches Stockwerk muß du?“ „Zweites“ sagte ich, und sie drückte die Knöpfe mit der zwei und der drei. Mir ist nicht recht klar, wieso ich sofort dachte, daß sie eine Ärztin sei. Was sie trug, konnte ebensogut eine Schwestertracht wie ein Arztkittel sein und unterschied sich nicht wesentlich von dem, was ich selbst trug, oder was irgend ein anderer Mitarbeiter des Hauses trug, und eine Stetoskop hatte sie auch nicht um den Hals hängen. Die Wahrscheinlichkeit sprach eher dafür, daß sie eine Schwester war, da auf einen Arzt vielleicht ein halbes Dutzend Krankenpfleger kamen und die Ärztinnen unter den Ärzten in der Minderzahl, die Schwestern unter den Pflegern in der Überzahl waren. Außerdem hätte ich eher von einer Schwester erwartet, daß sie mich, ohne mich zu kennen, duzte. Sie war außerdem noch sehr jung, vielleicht fünf Jahre älter als ich selbst, und fünf Jahre waren eigentlich zu kurz, um schon ein ganzes Studium der Medizin hinter sich zu haben, wenn sie nicht gerade ein Genie und Wunderkind war. Vielleicht war meine Vermutung bezüglich ihres Berufes nichts weiter als ein unsinniges spontanes Vorurteil, wie es jeder von uns gelegentlich entwickelt, das sich in

diesem Fall zufällig später als zutreffend herausstellte. Ich war sofort, im ersten Moment, als ich sie sah, ein klein wenig verliebt, so, wie wir eben den Stich des Begehrens verspüren, wenn wir eine Frau treffen, die wir sehr schön finden. Sie war sehr schlank, etwa einen Kopf kleiner als ich, hatte kurze, sehr helle Haare, sie hatte einen etwas spöttischen Blick, so, als belustige sie heimlich irgend etwas, einen schön geschwungenen, breiten Mund und ein eher kantiges als ebenmäßiges Gesicht. Nicht unbedingt ganz das Titelgesicht für eine Hochglanzbroschüre, aber in mir traf es die richtigen Saiten und brachte mein Herz zum Klingen. Ich erinnere mich noch, daß ich gleichzeitig wünschte, ich könnte jetzt irgend etwas sehr geistreiches und gewinnendes sagen, um eine Bekanntschaft mit ihr zu beginnen, und und wünschte, ich möge ihr möglichst selten begegnen, damit ihr Anblick mein Herz nicht allzu sehr mit ungestilltem Verlangen quälte. Dann öffnete sich die Tür, ich schob, unbeholfen und eine lächerliche Figur abgebend, den sperrigen Wagen aus dem Aufzug, sie sagte noch unerwartet ein „Ciao“, und dann schloß sich die Tür wieder, und ich sah sie mehrere Tage, vielleicht sogar mehrere Wochen nicht wieder, und der flüchtige Höhepunkt des Tages war verstrichen und vorbei. Der Rest des Tages verging wie die Tage davor und danach. Während ich zusammen mit Anja und Elisabeth den Essenswagen die beiden Flure unserer Krankenstation entlangschob und die Tabletts austeilte, dachte ich: „wie ist sie schön.“ und „heute abend, unter dem Laken im Dunkeln, werde ich sie in meiner Phantasie verführen“. Dann lenkte mich das Geplauder mit den Patienten ab, die ihr Essen mit einigen aufmunternden Sätzen serviert haben wollten. Für die meisten unserer Patienten muß der Aufenthalt in unserem Krankenhaus etwas ungeheuer langweiliges gewesen sein. Fast alle von ihnen warteten darauf, entweder wieder entlassen zu werden oder zu sterben, und so vergingen ihre Tage (nur eine Frau wartete weder auf das eine noch das andere, sondern auf ein Spenderherz, und ihr Warten war eines der quälendsten und nervenaufreibendsten). Viele waren zu schwach, das Fernsehzimmer aufzusuchen, oder scheuten die damit verbundene Mühe, und ein Buch habe ich nur bei wenigen auf dem Nachttisch liegen sehen. Einige benutzten die Klingel, mit der sie uns herbeirufen konnten, aus schierer Langeweile, und wenn wir dann kamen, benutzten sie fadenscheinige Ausreden, warum sie uns herbeigeklingelt hätten. Zwei alte Frauen im gleichen Zimmer, die uns trotz unserer zunehmenden Unfreundlichkeit immer wieder mit Fehlalarmen in ihr Zimmer zwangen, beschuldigten sich schließlich gegenseitig, auf den Klingelknopf der jeweils anderen gedrückt zu haben. Aber letztendlich unterschieden unsere Patienten sich durch ihr erzwungenes Warten nicht wesentlich von den Menschen außerhalb des Krankenhauses, die ja schließlich auch einen nicht kleinen Teil ihres Lebens mit Warten verbringen: mit Warten auf den Feierabend, den Jahresurlaub, den Wunschpartner, das ungeborenen Kind, den Karrieresprung, die unpünktliche Verabredung, den Bus, die Sendung im Fernsehen, die letzte Ratenzahlung, die Rente, das Ende dieser Abschweifung. Von Deleuze und Guattari (oder nur von Deleuze, so genau fällt mir das nicht mehr ein) gibt es die Behauptung, Masochismus bestünde hauptächlich aus Warten. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus scheint mir das treffend beobachtet. Der Trick besteht wohl darin, das Warten selbst zu etwas Lustvollem zu machen, den Weg zum Ziel. Für den Nachmittag jenes Tages hatte ich mir vorgenommen, in die Stadt hinunter zu fahren. Auf dem Rückweg zu meinem Zimmer schaute ich noch einmal aus dem selben Fenster wie am morgen: der Schnee war nicht geschmolzen, es hatte immer weiter geschneit, und eine geschlossene Schneedecke bedeckte die Welt dort draußen. In einem Zimmer setzte ich mich auf mein Bett und begann, meine Arbeitskleidung

auszuziehen. Ein paar Stunden später wachte ich müde und benommen wieder auf: ich war vor lauter Schlafmangel eingeschlafen, und nun war es spät am Abend, und draußen war es längst wieder finster geworden. Zu allem Überfluß brauchte mein Kreislauf eine weitere Stunde, ehe er wieder richtig funktionierte und ich zu mehr fähig war, als apathisch auf der Bettkante zu sitzen und ab und zu einen Blick in ein Buch zu werfen, auf dessen Lektüre ich mich nicht richtig konzentrieren konnte. Für die Fahrt in die Stadt war es nun viel zu spät, der letzte Bus nach unten, der sich gelohnt hätte, war vor einer halben Stunde gefahren. Schließlich war ich aber wenigstens soweit wieder wach, daß ich mich aufraffen konnte, die Ziviküche aufzusuchen, wo ich die anderen Zivildienstleistenden des Krankenhauses traf. An die Frau, die ich im Fahrstuhl getroffen hatte, dachte ich den ganzen Abend kein einziges Mal. Erst als ich mich zu Bett legte, fiel sie mir wieder ein und wie ich mich mittags darauf gefreut hatte, mir vorzustellen, wie ich sie mit meinem Charme und meinem Esprit verführte, sie küßte, auszog und ausführlich Sex mit ihr hatte. Bald netzte ich das Laken, das auch in der anstaltseigenen Wäscherei gewaschen wurde, mit meinem Schaum. Eine meiner abergläubischen Vorstellungen ist die, daß das, was ich mir vorstelle, nicht eintritt, jedenfalls nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Vor einer Prüfung versuche ich mir deshalb alle Arten vorzustellen, die es gibt, eine Prüfung nicht zu bestehen, um damit irgendwie magisch die Möglichkeit des Nichtbestehens zu bannen. Der rationale Kern dieser irrationalen Zwangsvorstellung ist wohl die Beobachtung, das sehr oft Dinge nicht so eintreffen, wie wir sie uns vorgestellt haben, aus dem einfachen Grund, weil es für die Dinge unzählig viele verschiedene Möglichkeiten gibt, einzutreffen, so daß unsere bildliche Vorstellung kaum eine Chance hat, die Wirklichkeit zu antizipieren. Aus meinem Aberglauben läßt sich folgern, daß, wenn ich mir vorstelle, mit einer bestimmten Frau zu schlafen, ich ganz bestimmt nicht mit dieser Frau schlafen werde. Da ich mir aber eigentlich bei jeder Frau, mit der ich gerne schlafen würde, vorstelle, mit ihr zu schlafen, so folgt daraus, daß ich überhaupt nie mehr mit einer Frau schlafen werde. Insbesondere ließ sich die Schlußfolgerung zuspitzen, daß nun, da ich masturbiert hatte mit der Vorstellung, mit jener Unbekannten aus dem Fahrstuhl zu schlafen, ich niemals mit ihr in der Realität schlafen würde. Die einzige kleine Umstimmigkeit in dieser Überlegung war, wie ich es denn dann eigentlich geschafft hatte, mit meinen beiden früheren Freundinnen zu schlafen. Freilich hatte ich mir bei beiden bis zum Schluß einzureden versucht, daß ich im Grunde überzeugt sei, daß ich wohl nicht dazu kommen würde, mit ihnen zu schlafen, um dann überrascht sein zu können, wenn es doch geschah, um die Regeln meines Aberglaubens nicht zu verletzen. Mit diesen Gedanken schlief ich ein. II Ich sagte bereits, daß bis zur nächsten Begegnung mehrere Tage oder Wochen vergingen, genauer kann ich mich nicht mehr erinnern. Es war wieder in einer Frühschichtwoche, und es war, denke ich, nicht in der gleichen Frühschichtwoche, also war es vielleicht zwei Wochen später. In meinen Aufzeichnungen aus dieser Zeit findet sich kein Hinweis mehr: tagebuchartige Notizen mache ich mir fast nur, wenn es mir schlecht geht, und so sind meine frühesten Begegnungen mit ihr nicht dokumentiert. So kann ich zwar noch herausfinden, aus welcher Woche die Notizen zu den Hieroglyphen aus dem Schlußteil des „Arthur Gordon Pym“ stammen, und aus welcher Woche die Notizen zum dreizehnten Kapitel des Buches Levitikus, weil ich beides gewissenhaft mit Datum versehen habe, in welcher dieser Wochen aber ich was erlebt habe, kann ich nicht mehr herausfinden. Mir scheint, wir begegneten uns gerade in dem Moment zum zweiten Mal, als meine Erinnerung an sie zu verblassen begann. Aber das ist wohl eine Täuschung der Wahrnehmung:

ich dachte wohl schon seit ein paar Tagen kaum mehr an sie, als ich ihr erneut begegnete, und gleichgültig, ob wir uns zwei Tage früher oder später erneut begegnet wären, hätte ich in jedem Fall das Gefühl gehabt, sie habe mit dieser Begegnung genau bis zu dem Moment gewartet, indem ich sie vergessen hätte. Ich kann mich auch nicht erinnern, wieso ich damals an einem Vormittag die Krankenakten sortierte, obwohl an einem Vormittag immer so viel auf Station zu tun war, daß für solche archivarischen Tätigkeiten eigentlich keine Zeit war. Freilich, an einiges von dem, was sich an jenem Tag ereignet hat, kann ich mich dann doch noch erinnern. Ich erinnere mich, wie ich an jenem Tag zum ersten Mal einen Menschen sah, der Joghurt pur, ohne Marmelade, aß, und dachte, wie bloß jemand freiwillig etwas derart scheußliches essen könne. Ich erinnere mich, wie ich am Nachmittag dieses Tages in einem Plattenladen das abweisende und düstere Cover des Albums „5“ von Soft Machine in Händen hielt und mein Herz aufgeregt zu klopfen begann. Ich erinnere mich, wie ich am Abend des selben Tages die CD in den CD-Spieler legte und wie die ersten Töne des ersten Stücks des Albums erklangen. Ich erinnere mich, wie ich einzelne Kärtchen sortierte und die Frau aus dem Fahrstuhl erneut vor mir stand. „Ich brauche die Akte Weisinger“ sagte sie und gab mir einen Zettel mit dem Namen und dem Geburtsdatum. „Gut“, murmelte ich, und begann die Kärtchen des Katalogs zu durchsuchen. Die Referenz auf die gesuchte Akte existierte nicht. „Das kann nicht sein“, sagte sie. „Der Mann war vor drei Monaten hier bei uns.“ „Ich durchsuche am besten den ganzen Kasten. Vielleicht hat jemand die entsprechende Karte falsch einsortiert.“ Da der Buchstabe „W“ ziemlich am Ende des Alphabets steht und ich mir in der unmittelbaren Nähe des „W“ am meisten Hoffnungen machte, die fehlende Karte zu finden, begann ich, von hinten das ganze Alphabet zu durchsuchen. Das ganze Alphabet des aktuellen Jahres enthielt die Karte nicht. „Vielleicht ist nur die Karte des aktuellen Jahres verschwunden, und aus dem letzten Jahr existiert sie noch.“ sagte ich. „Aber ich sagte doch schon, daß der Mann dieses Jahr hier war.“ sagte sie ungeduldig, „wie kann denn da die Akte verschwinden? So eine Akte darf doch nicht einfach verschwinden.“ „Ich habe keine Ahnung. Ich arbeite heute nur aushilfsweise hier, normalerweise bin ich auf Station. Soll ich jetzt noch in den früheren Jahren nachschauen?“ „Meinetwegen.“ Ich war mir ziemlich sicher, daß die Karte auch in den früheren Jahrgängen nicht auftauchen würde. Wenn es überhaupt noch eine Akte gab, und wenn der Mann dieses Jahr im Krankenhaus gewesen war, dann war das Karteikärtchen, das auf die Akte verwies, ganz bestimmt aktualisiert worden, und wenn es jetzt nicht mehr auftauchte, dann war es überhaupt verschwunden. Sie sah mir zu, wie ich die Kärtchen der restlichen Jahrgänge durchsuchte, und obwohl mein Blick nur auf die Kärtchen gerichtet war, war ihre Gegenwart etwas deutlich spürbares. Den ganzen Schrank mit Karteikarten sollte man wegschmeißen, dachte ich, und durch eine Datei auf einem Computer ersetzen. Das Verwaltungssystem der Akten war ebenso überaltet wie die Gebäude, in denen die Klinik untergebracht war, oder die Managementmethoden, nach denen sie betrieben wurde. Freilich war in diesem Punkt ich derjenige, dessen Meinung am wenigsten gefragt war. Im übrigen ärgerte es mich, daß sie, die Namenlose, mich für den desolaten Zustand des Archivs verantwortlich zu machen schien, so, als würde ich die Akte aufgrund meiner eigenen Schlampigkeit nicht finden oder sie ihr aus Boshaftigkeit verweigern, obwohl heute erst das zweitemal überhaupt war, daß ich das Archiv betreten hatte, obwohl es mir doch viel lieber gewesen wäre, ich hätte ihr strahlend und triumphierend die Akte präsentieren können, obwohl doch eine gute Meinung von ihr über mich mir viel lieber gewesen wäre. Die übrigen Jahrgänge enthielten die Referenzkarte ebenfalls nicht. „Und was machen wir jetzt?“ fragte sie. „Ich könnte versuchen, ob ich die Akte so finde, ohne die Nummer zu kennen. Dazu müßte ich nur sämtliche Akten durchsuchen, ob sie die gesuchte

Akte sind. Das kann allerdings eine halbe Stunde dauern.“ Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, daß ihr diese Auskunft nicht paßte, ärgerlich oder über eine alternative Lösung nachdenkend zog sie die Brauen zusammen. „Gut, dann komme ich in einer halben Stunde wieder.“ entschied sie, drehte sich auf dem Absatz um und war verschwunden. Das Archiv enthielt sämtliche Krankenakten des Kankenhauses, wobei jede Akte eine Nummer hatte und die Akten nach Nummern geordnet waren. Um eine Akte zu finden, gab es einen Zettelkasten, in dem die Zettel mit den Namen der Patienten alphabetisch sortiert waren. Jeder Zettel trug nicht nur Name und, zur Unterscheidung bei Namensgleichheit, das Geburtsdatum, sondern auch die Nummer der zugehörigen Akte. Geordnet waren die Zettel außerdem nach Jahren: kam ein Patient in diesem Jahr in unser Krankenhaus, dann wanderte seine Akte und der Zettel, der auf die Akte verwies, in das aktuelle Jahr. Auf diese Art und Weise ließen sich die alten, selten gebrauchten Akten aussortieren. Eine Akte, auf die kein Karteizettel mehr verwies, wurde praktisch unauffindbar, allenfalls eine systematische Suche über alle Akten, so, wie ich sie jetzt vorhatte, konnte sie wieder auffindig machen. Diese Unüberschaubarkeit der Akten hatte ich bei meinem ersten Aufenthalt im Archiv zu einem kleinen Scherz genutzt: ich hatte eine Krankenakt für John Cage angelegt, mit einem leeren Blatt für die Anamnese und so weiter, und diese Akte dann dem Archiv hinzugefügt. Ich nehme an, diese Akte ist heute noch dort. Ich dachte mir, währnd ich in der trockenen, hustenreizerzeugenden Luft des Archivs sämtliche Akten kurz aus dem Regal zog, einen Blick auf den Namen warf und dann wieder ins Regal zurückschob, daß die Unbekannte wohl anscheinend tatsächlich eine Ärztin war, denn die Krankenschwestern interessierten sich in der Regel nicht besonders für die Krankenakte (uns, die Schwestern und mich, beschäftigte weit mehr das Blatt, in dem Fieber, Puls, Blutdruck und Stuhlgang eingetragen wurde; die ständige Beschäftigung mit der Frage, ob sie heute schon Stuhlgang gehabt hatten oder nicht, pflegte stets einen Teil unserer Patienten so zu verwirren, daß sie an der Regelmäßigkeit ihres Stuhlgangs zu zweifeln begannen und von uns in heftigsten Worten Abführmittel begehrten; wurde ihr Drängen allzu hartnäckig, gewährten wir ihnen irgend welche harmlosen Mittelchen, oft kaum mehr als Plazebos). Also hatte ich mit meiner ganz grundlosen Vermutung doch recht gehabt. Außerdem dachte ich, daß sie ruhig etwas freundlicher sein könnte, schließlich war es nicht meine Schuld, daß die Akte verschwunden war. Ich bezweifelt sogar, daß irgend jemand anders sich die Mühe gemacht hätte, sämtliche Akten zu durchmustern, um eine verschwundene zu finden. Freilich hatte sie insofern die Moral auf ihrer Seite, als sie ja nicht für sich selbst suchte, sondern für einen kranken Menschen, dessen Wohlergehen vielleicht nicht unwesentlich davon abhing, ob jene Akte sich wieder auftreiben ließ. Und schließlich dachte ich, was ich ihr sagen könnte, wenn sie in einer halben Stunde wieder auftauchen würde. Denn wenn sie jetzt wieder gehen würde, dann würde ich wieder etliche Tage unruhig über sie nachdenken müssen und nicht wissen, wann wir uns wiedersehen würden. Keine der Akten trug den gesuchten Namen. Nach fünfundzwanzig Minuten stand sie wieder da und sagte: „Ich brauche diese Akte. Wirklich.“ „Ich habe sämtliche Akten durchgesehen. Es gibt diese Akt hier nicht.“ antwortete ich. „Das ist schlecht.“ sagte sie und ging wieder. III Im Internet gibt es einen unbetitelten Text, in dem eine gewisse Sibylle über ihre Kindheitserinnerungen schreibt. Eine Stelle, die mich besonders erstaunt, beginnt mit einer Aufzählung von Spielfiguren, die sie besessen hatte (darunter der Löwe Kimba, von dem ich auch eine Figur besaß). Es heißt dann, ich erlaube mir, einen längeren Abschnitt zu zitieren: „Ein Old Shatterhand, der, wenn ihm auf den Rücken gedrückt wurde, seinen Arm zu einem

Axthieb schwang und dem, wenn er den Ellbogen beugte, der Oberarmmuskel anschwoll, war im Vergleich zu den Legofiguren, ein Riese und gab deshalb öfters die Rolle eines Superschurken. Einmal ließen wir ihn Captain Future zum Hirntausch zwingen, so daß er selbst, in Futures Körper, alle Welt glauben machen konnte, er sei tatsächlich Future, um so ungehindert seine finsteren Pläne in die Tat umsetzen zu können, während der Geist Futures in dem Körper des Riesen gefangen war. Meistens ließ ich den Riesen, der ursprünglich Old Shatterhand hieß, nackt auftreten, wobei er ganz nackt nie war, denn eines seiner Körperteile bestand aus einer Unterhose, an der Oberschenkel und Oberkörper mit Kugelgelenken befestigt waren. Den Anblick dieses männlichen Körpers mit seinen nicht bodybuilderhaft übertriebenen, aber doch unübersehbar vorhandenen Muskeln und der dezenten, aber gleichfalls unübersehbaren Schwellung in der Unterhose übte ab einem bestimmten Zeitpunkt eine gewisse Faszination auf mich aus, und eventuell faßte ich ihn öfter an und verdrehte seine Gelenke, als eigentlich für die Handlung des Spiels nötig gewesen wäre. Seine unablegbare Plastikunterhose faszinierte mich derart, daß ich Jahre später ein kleines Kunstmärchen schrieb über einen Mann, der von einer bösen Fee ins Bett gelockt wird und am nächsten Morgen feststellen muß, daß sie ihm nachts heimlich eine verhexte Unterhose angezogen hat, die er nun nicht mehr ablegen kann, und daß sie seine Feindin ist, die sich auf diese Weise an ihm rächen will. Die Unterhose erweist sich in diesem Märchen als aus einem glänzen, harten, unzerstörbaren Material gefertigt, und der Held ist ziemlich verzweifelt.“ Seit ich diese Passage gelesen habe, will sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich kann kaum ausdrücken, wie sehr ich bedaure, daß die Sprecherin darauf verzichtet hat, das Märchen, das sie verfaßt hat, gleich mit abzudrucken. Ich kann nicht sagen, wie oft ich mir seither ausgemalt habe, wie in etwa dieses Märchen gelautet haben könnte. Ich muß gestehen, die Vorstellung, jener Held zu sein, hat für mich durchaus nicht nur etwas unangenehmes. Eine andere Lektüre vergangener Tage: ich erinnere mich, wie ich als Jugendlicher in den Ferien außer Hauses wohnte und nicht allein schlief, so daß ich keine Gelegenheit hatte, nachts nach belieben zu masturbieren. Dort fiel mir ein Exemplar des „stern“ in die Hände, und in jener Ausgabe ging es, wieder einmal, um die faszinierende Welt der Dominas. Nun, die Themen, die im „stern“ und vergleichbaren Presseorganen abgedruckt werden, neigen dazu, sich regelmäßig zu wiederholen, und SM gehört zu diesen Themen. Mir aber war damals alles neu. Ich hatte seit Tagen nicht ejakuliert, ein mir damals völlig ungewohnter Zustand, und nun las ich diesen viel zu kurzen Artikel über strenge Herrinnen in Leder, die ihre Sklaven auspeitschten und brandmarkten und ihnen vorschrieben, wie oft sie mit ihren Ehefrauen schlafen durften und wie oft sie masturbieren durften. Schließlich masturbierte ich auf der Toilette und verspritzte mehr Samen als jemals zuvor. Je länger ich wartete, bis ich masturbierte, desto besser fühlte es sich an. Desto mehr verschoben sich aber auch meine Phantasien in den masochistischen Bereich. Ich dachte darüber nach, diese Erfahrung der aufgeschobenen Ejakulation zu wiederholen, aber ohne äußeren Zwang brachte ich die Willensstärke zur Enthaltsamkeit nicht lange auf. Ich verfiel deshalb auf die Idee, eine Vorrichtung, die mich zeitweise daran hindern würde, zu masturbieren, müßte für mich zu unbeschreiblichen Freuden führen. Sogar die Vorstellung, überhaupt keinen Orgasmus mehr erleben zu können, so, wie der Held von Sibylles Märchen (es sei denn, ihr Märchen endet so, daß der Held am Ende doch befreit wird), hatte etwas ungemein erregendes für mich. Ich erinnere mich noch an eine andere Geschichte, in der ein Mann einer Frau anbietet, für sie gelegentlich einen Keuschheitsgürtel zu tragen, und sie läßt sich auf das Spiel ein. Nach einiger Zeit stellt er fest, daß das Tragen des Keuschheitsgürtels ihm doch nicht die erhofften Lustgefühle verschafft, und er bittet sie, ihn wieder frei zu lassen. Sie aber hat beschlossen, ihn überhaupt nie mehr frei zu lassen, und trotz seines Flehens und Fluchens hält sie ihn permanent, für den Rest seines Lebens, verschlossen, und obwohl das Tragen des Keuschheitsgrürtels ihm längst keinen Spaß mehr macht und er ihn liebend gern

wieder ablegen würde, darf er nie wieder einen Orgasmus erleben. Es ist schwer zu erklären, aber auch diesen Mann beneide ich. Welch Taumel der Erregung, geiler und geiler zu werden und sich nicht befriedigen zu können, und dadurch, in meinem Fall, auch unterwürfiger und unterwürfiger zu werden. Gewöhnlich entwerfen wir eine Phantasie, die uns erregt, und haben wir unseren Samen erst einmal vergossen, fällt die Phantasie in sich zusammen und wird fahl und öde. Bleibt aber die Befriedigung aus, hat die Phantasie Gelegenheit, ins Unermeßliche zu wachsen. Bleibt die Frage nach der technischen Umsetzung dieser Phantasien. Im Märchen ist es leicht, eine Unterhose aus einem „glänzendem, hartem, unzerstörbaren Material“ herzustellen, in der Realität nicht. Ich dachte an eine Konstruktion aus Stahl, aber ästhetisch befriedigend fand ich diese Vorstellung nicht. IV Wir Zivis wechselten uns ab, für die Ziviküche einkaufen zu gehen, und in der folgenden Woche war ich an der Reihe. Da es meine Spätdienstwoche war, ging ich vormittags einkaufen. Noch immer lag der Schnee und wollte nicht schmelzen, und die Luft war kalt, bis ich den Supermarkt betrat. Alle anderen Menschen waren arbeiten, die Studenten schliefen noch, nur ein paar Rentner und gelangweilte Arbeitslose bevölkerten außer mir den Laden. Rasch und routiniert häufte ich Eier, Schafskäse, Knoblauch, Quark, Milch, Camembert, Auszugsmehl und Backpulver in meinem Einkaufswagen. Dann stand sie vor mir und lächelte mich an. Auch sie hatte einen Einkaufswagen und war einkaufen. „Hallo“ sagte ich. „Hallo“ antwortete sie. Nun, dacht ich, jetzt sollte ich vielleicht noch etwas sagen. „Und, wie ist es Herrn Weisinger ergangen, ist seine Akte später noch aufgetaucht?“ fragte ich. „Nein, aber er ist inzwischen wieder entlassen worden.“ sagte sie. „Bist du öfter unten im Archiv? Ich habe dich erst einmal dort getroffen?“ „Nein, eigentlich nie. Normalerweise arbeite ich auf IIa.“ „Stimmt, ich habe dich getroffen, als du das Essen im Fahrstuhl nach IIa gefahren hast.“ „Und du, wo arbeitest du?“ „Auf der I, im Moment erledige ich die Arbeiten, für die der Proessor sich zu gut ist.“ „Bist du denn schon fertig mit deiner Ausbildung?“ „Ja, warum denn nicht? Sehe ich nicht so aus?“ „Mir ist jetzt nicht klar, wie ich es sagen soll“, sagte ich und wußte nicht, wie ich es sagen sollte, „ich hätte dich für zu jung gehalten, ich meine, ich hätte nicht gedacht, daß du schon so alt bist, daß du deine Ausbildung abgeschlossen haben kannst.“ „So“, sagte sie und sah ein wenig spöttisch aus, „für wie alt hättest du mich denn gehalten?“ Im Erraten des Alters eines Menschen war ich noch nie gut. Jedenfalls würde sie nicht beleidigt sein, wenn ich sagen würde: „25“ „Oh, sehr schmeichelhaft. Ich dagegen würde dich auf... laß mich raten... neunzehn oder zwanzig, ich würde dich auf zwanzig schätzen.“ „Oh, ich bin aber erst süße neunzehn. Und wie alt bist du?“ „Viel älter als du. Und wann hast du mit dem Zivildienst anfangen? Wahrscheinlich am Ende des Sommers?“ „Im Oktober. Und seit wann bist du hier?“ „Ich bin im November hierher gezogen.“ Ob sie wohl einen Freund hat, dachte ich, der mit ihr zusammen hierher gezogen ist? Und als was der wohl arbeitete? Sollte ich sie fragen? „Also hast du nicht hier studiert?“ „Nein, so gut waren meine Noten dann auch wieder nicht“ (denn nur die Besten bekommen an der hiesigen Universität einen Studienplatz Medizin). „Ich muß noch weiter einkaufen“, sagte sie (aha, das Gespräch war also zu Ende), „wir sehen uns sicher wieder.“ „Das würde mich sehr freuen“ sagte ich und begann, meinen Wagen weiterzuschieben, fragte dann aber doch noch: „Wie heißt du eigentlich?“ „Bia. Und du?“ „Kandid“. So trennten wir uns. Aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie sie einen Becher saurer Sahne in ihren Wagen legte. Ich bezahlte meine Waren, verstaute sie (die stabilen unten, die zerbrechlichen oben) in meinem Rucksack und trat wieder hinaus in den kalten Winter. Sie hatte sich an mich erinnert, und sie schien sich an mich auch nicht als „der Idiot, der die Akte nicht gefunden hat“ zu erinnern, und sie hatte festgestellt, daß wir uns wiedersehen würden. All das hatte natürlich

nicht viel zu bedeuten, vermutlich hatte sie ein sehr gutes Gedächtnis für Personen und Gesichter (ganz im Gegensatz zu mir), und mutmaßlich sprach sie alle Menschen so offenherzig an wie mich. Mir fiel ein, daß sie mich gleich bei unserer ersten Begegnung geduzt hatte. Vielleicht, weil sie mich nicht ganz ernst nahm (so, wie nicht wenige der übrigen Ärzte alle Nichtärzte, also insbesondere alle Angehörigen des Pflegepersonals, für Menschen zweiter Klasse hielten), immerhin hatte sie es aber auch nicht unter ihrer Würde gefunden, sich mit mir zu unterhalten. Vermutlich würden wir uns wiedersehen, irgendwo auf den Fluren des Krankenhauses, sie würde mich wiedererkennen und lächeln, und das wäre dann alles. Insofern war ihre Ankündigung, daß wir uns wiedersehen würden, ebenso zutreffend und glaubwürdig wie vage und nichtssagend. Etwas anderes wäre es, wenn ich es irgendwie zustande bringen könnte, mich mit ihr zu unterhalten und mich mit ihr zu verabreden. Unwahrscheinlich. Der einzige Bus, der sich die Mühe machte, den Berg zu befahren, auf dem mein Krankenhaus lag, fuhr auf der Haltestelle ein. Wie meist, war viel Platz in dem Bus, und ich konnte mir einen Sitz am Fenster aussuchen und auf die winterliche Landschaft in ihrer schneebedeckten Pracht hinausschauen. Der Bus schlängelte sich die Serpentinen nach oben, zwischen laublosen Bäumen hindurch, die wie Tuschezeichnungen auf leerem Papier ihre Äste vor dem Hintergrund des Himmels zeigten, wobei die Astspitzen ein selbstähnliches Muster bildeten. Dann kam die Haltestelle, an der ich und zwei oder drei Patienten (ganz genau will es meinem Gedächtnis nicht mehr einfallen) ausstiegen und zum Eingang der Klinik liefen. Ich ging zur Küche und verstaute meine Einkäufe (warum haben alle Kühlschränke die gleiche Farbe? Wäre es im Kapitalismus nicht naheliegender, Kühlschränke in allen Farben und Mustern herzustellen?), dann legt ich mich noch ein paar Minuten, ohne mich auszuziehen, auf mein Bett und träumte vor mich hin. Die Rauhfasertapete an der Decke meines Zimmers bildete ein Muster, in das sich mit etwas Phantasie alle möglichen Formen hineinlesen ließen. Bia hieß sie also. Vermutlich ihr Vorname. Ich hatte Glück, fand ich, daß ich nicht durch irgend einen dummen Zufall einer unüberlegten Namensgebung von seiten ihrer Eltern gezwungen war, ihr hübsches Gesicht von nun an mit einem häßlichen Namen zu assoziieren. Beim Mittagessen traf ich von den übrigen Zivis nur Andreas. Andreas arbeitete auf der Station I, also mußte er Bia vermutlich kennen. Ich könnte ihn fragen, dachte ich, ob bei ihnen eine neue Ärztin zu arbeiten begonnen hätte und wie sie mit Nachnamen hieße, fand aber im Lauf des Gesprächs keinen rechten Anlaß zu einer solchen Frage. Andreas erzählte, daß das Pfegepersonal der I zur Zeit hoffnungslos unterbesetzt sei, daß aber immer noch nicht klar sei, was nächste Woche passieren sollte, wenn er, Andreas, auf seiner wider Erwarten doch genehmigten Fortbildung sei. Rein formal war es zwar gleichgültig, ob Andreas nächste Woche auf der Station I Schichtdienst leistete oder auf Fortbildung war, denn ein Zivi als nicht ausgebildete Pflegekraft konnte formal eine unterbesetzte Station nicht in eine ausreichend besetzte Station verwandeln, er konnte aber wenigstens eine formal unzulässige und faktisch unhaltbare Siuation in eine formal unzulässige und faktisch eben noch tolerierbare Situation verwandeln. Formal zählte er nicht, wenn es darum ging, den Grad der Besetztheit einer Station zu ermitteln, faktisch aber sehr wohl, und wegen des Personalmangels auf der Station I war er im Grunde nächste Woche nicht entbehrlich. Vermutlich würde jemand anders von einer anderen Station für ihn einspringen müssen. Zu den seltsamen Leistungen des Gedächtnisses gehört, daß ich mich noch erinnern kann, daß es damals als Nachtisch eine Quarkspeise gab, auf die mit Kakao ein Herz gestreut war. Die Klinik war an eine Diätschule für Diätassistentinnen angeschlossen, und im Rahmen ihrer Ausbildung waren die Diätassistentenschülerinnen auch für die Zubereitung des Mittagessens zuständig, das entsprechend aufwendiger und liebevoller als in einer gewähnlichen Großküche ausfiel. Ich erinnere mich sogar noch, daß ich bei dem Anblick des dunklen Kakaos auf dem hellen Quark zum zweiten Mal an diesem Tag an eine Tuschezeichnung auf einem leeren Blatt

Papier denken mußte, mag diese Erinnerung auch noch so nutzlos sein. Dann ging ich auf meine Station, um meinen Dienst anzutreten. Während der Übergabebesprechung erfuhr ich, daß ich nächste Woche aushilfsweise auf der Station I arbeiten sollte. Denn dort fiel ein Zivi wegen irgend einer Weiterbildung aus, und die Station I hatte zu wenig Leute, um den Ausfall zu kompensieren. V Woran ich mich nicht mehr genau erinnern kann, ist, ob ich an einem Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag einkaufen war und von meiner Verleihung an die Station I erfuhr. Jedenfalls vergingen einige Tage, ehe die Woche zu Ende war und die nächste Woche begann; nun, das ist eine ziemlich triviale Bemerkung, die wohl auf die meisten Wochen zutrifft. Wir erinnern uns, daß ich irgendwo weiter oben sagte, daß das Leben hauptsächlich aus Warten besteht. Während der Zivildienstzeit war das Warten besonders schlimm, denn statt fünf Tage auf das Wochennde zu warten, wie die meisten anderen Arbeitnehmer, wartete ich zwölf Tage, denn aufgrund meines Schichtdienstes mußte ich jedes zweite Wochenende arbeiten. Wenn Heidegger in seinem berühmten Buch die Sorge als zentralen Begriff menschlicher Existenz herausstellt, so meint er im Grunde mit der Sorge das Warten, denn die Sorge ist ja nichts anderes als das antizipierte Scheitern, also eine Form des Wartens. Eigentlich leben wir, wenn wir nicht warten und sorglos sind, aber das ist ein ausgesprochener Ausnahmezustand. Erreichen läßt er sich auch nicht durch das Ankommen, denn die Ankunft ist nicht wirklich der Zustand der Sorglosigkeit, sondern der Punkt, an dem die Sorgen ausgewechselt werden; erreichen läßt sich dieser Zustand nur dann, wenn es uns gelingt, den Zustand des Wartens selbst zu einem ekstatischen zu machen. Trotzdem bin ich ganz froh, daß jene Woche irgendwann einmal zu Ende war und ich tatsächlich auf die Station I versetzt wurde und dort Bia wieder traf. Zwar habe ich letztendlich, so könnte ein Außenstehender boshaft bemerken, dadurch, daß ich mit ihr zusammen kam, nur eine Form des Wartens mit einer anderen vertauscht, aber um wie vieles angenehmer ist jene andere Form des Wartens. Wir trafen uns am Montag, als ich mit den Schwestern im Stationszimmer saß und die Heparinspritzen richtete und sie mit dynamischem Schritt hereinkam und mich mit „Oh, hallo Kandid, bist du heute bei uns?“ begrüßte und ich gerade noch Zeit hatte, „ja, die ganze Woche“ zu antworten, ehe sie wieder verschwunden war. Auch den Rest des Tages sahen wir uns immer nur zwischen Tür und Angel. Von den Anderen erfuhr ich, daß sie mit vollem Namen Dr Bianka Albus hieß, daß sie seit n Wochen in diesem Krankenhaus auf dieser Station arbeitete (wobei n für eine Zahl von Wochen steht, die ich seither wieder vergessen habe), daß sie sich durch eine hohe fachliche Kompetenz auszeichnete, sich dadurch zum Liebling des Professors gemacht hatte und von ihm deshalb gleich zu Beginn mit der Leitung der Station für Privatpatienten betraut worden sei. Am Dienstag sprach sie mich auf dem Gang an: „Hallo, du bist die ganze Woche hier?“ „Ja.“ „Warum?“ „Weil Andreas, der Zivi, der eigentlich hier arbeitet, diese Woche auf Fortbildung ist.“ „Dann werden wir uns die Woche ja wohl öfter sehen.“ Die Tatsache, daß sie sich daran erinnerte, daß ich gesagt hatte, ich werde die ganze Woche hier sein, bewog mich, ein wenig kühner zu werden: „Aber wer kann wissen, wie oft wir uns nach dieser Woche sehen werden.“ „Oh, bestimmt noch sehr oft“ sagte sie und lächelte. „Nun, wir könnten diese Frage von jeder Ungewißheit befreien, wenn wir uns entschließen würden, uns absichtlich zu treffen.“ sagte ich. Sie schien einen Moment nachzudenken und sagte dann nur: „Aha.“ Das klang nicht unbedingt ermutigend, fand ich (und mehr als ein Dutzend Sätze hatten wir eigentlich bis jetzt auch noch nicht gewechselt), trotzdem fragte ich: „was meinst du?“ „Zum Beispiel wann?“ „Zum Beispiel heute abend?“ „Heute abend geht nicht und morgen abend auch nicht. Wie wäre es mit Donnerstag?“ „Gerne.“ „Ich sag dir noch mal genauer Bescheid.“

Das war nun, fand ich, eine ziemlich erstaunliche und überraschende Wendung der Ereignisse (weniger überraschend vielleicht für die geneigte Leserin, die ja schließlich davon ausgehen kann, daß ich diese Geschichte nicht erzählen würde, wenn ich mit Bia nicht mehr erlebt hätte, als sie ab und zu auf dem Gang zu treffen und von ihr angelächelt zu werden; obwohl andererseits ja zum Beispiel Dante mit seiner Beatrice auch nicht viel mehr erlebt hat). Wieder war ich zum Warten verurteilt, aber diesmal zu einer ganz anderen Art des Wartens, nicht ein Warten darauf, wann die nächste zufällige Begegnung stattfinden würde, sondern ein Warten auf einen festen Termin: donnerstag abend. Die Arbeit wurde mir in diesen drei Tagen so lästig wie kaum sonst, die Nöte und Kümmernisse der Patienten und ihre Bedürfnisse etwas, das mir außerordentlich ungelegen kam, während ich sonst in der Regel den Umgang mit den Patienten interessant und bereichernd fand. Die Stunden schienen sich entschlossen zu haben, nur so dahinzukriechen, die Zahl der Zimmer, in denen die Betten gewechselt, die Temperatur gemessen, mit dem Bewohner ein freundliches Wort gewechselt werden mußte, schien sich vervielfältigt zu haben, und gelegentlich begegnete mir Bia, zusammen mit dem Professor und einem AIPler und der leitenden Schwester auf Visite mit dem Wägelchen mit den Patientenakten. Manchmal, oder vielleicht auch nur einmal, verließen sie das Zimmer eines Patienten, um sich auf dem Flur über den Fall zu unterhalten, der Professor in den Fall vertieft und mich, ein Wesen außerhalb seiner Sphären, nicht wahrnehmend, der AIP und die Schwester ganz auf den Meister fixiert, und nur Bia sah mich und lächelte. Wie die Tropfen, die in einen Katheter geleitet werden, tropften die Sekunden vor sich her, draußen spiegelte sich die Sonne im Schnee, die Gespräche der Schwestern kamen mir mit einem Mal öde und langweilig vor, obwohl sie doch sonst nicht ohne Witz gewesen waren. An den beiden Nachmittagen hatte ich Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren und meine Zeit mit Tätigkeit zu füllen, ich verbracht schließlich beide Abende im Fernsehzimmer des Schwesternwohnheimes, wo ein altertümliches Gerät stand, das nicht einmal Farbe anzeigen konnte, mit dem ich mir aber irgendwie die Zeit vertreiben konnte. Nach Einsteins spezieller Relativitätstheorie bewegt jeder Gegenstand sich ständig mit Lichtgeschwindigkeit. Ruht ein Gegenstand im Raum, so bewegt er sich doch wenigstens mit Lichtgeschwindigkeit durch die Zeit. Es wird daher niemand ernsthaft überraschen, daß ich schließlich doch den Donnerstag erreichte, so lang mir die Zeit bis dahin auch vorkam. Am Donnerstag morgen sprach Bia mich an und sagte: „Ich habe mir überlegt, ich würde gerne etwas für dich kochen. Ist dir das Unterhaltung genug für einen Abend, oder sollen wir lieber ins Kino gehen?“ „Nein, das ist in Ordnung“ sagte ich (Himmel, wie sollte ich auf die Idee kommen, mit ihr ins Kino zu gehen, wenn sie mich statt dessen in ihre Wohnung einlud). „Dann komm so gegen acht heute abend. Im Moment wohne ich noch im Schwesternwohnheim, bis ich eine Wohnung in der Stadt gefunden habe; Zimmer 256.“ „Okay“ sagte ich. VI Viele Menschen schätzen die Phase der ersten Verliebtheit höher als die sich eventuell anschließende Zeit der geordneten Beziehung, der ruhigen und stetigen Liebe. Wenn wir uns versuchen, klarzumachen, was eigentlich jene erste Verliebtheit von der späteren Liebe unterscheidet, so scheint mir der wesentliche Unterschied zu sein, daß jene erste Verliebtheit eine Mischung aus extremem Glück und extremer Angst darstellt, während in der späteren Liebe im günstigsten Fall die Angst durch sicheres Vertrauen ersetzt wird. Demnach wäre es gerade die Angst, die jene Zeit der ersten Verliebtheit so anziehend macht. Die einzige andere Form der Beziehung außer der Verliebtheit, in der Liebe und Angst sich mischen, die ich kenne, ist der Masochismus. Es wäre demzufolge der Masochismus eine Methode, dauerhaft und in einer einzigen monogamen Beziehung den als glücklich erlebten Zustand der ersten Verliebtheit zu wiederholen. Wenn wir es so betrachten, dann habe ich nicht

aufgehört, in Bia verliebt zu sein, seit ich mit einer Mischung aus Stolz, Angst, Begehren und Glück auf unsere erste Verabredung gewartet habe. Denn noch immer empfinde ich Stolz, Angst, Begehren und Glück. Während ich an meinem Computer sitze und dies hier schreibe, liegt sie in ihrem Bett, mein Augapfel und meine Schatzbehüterin, und ich begehre sie über die Maßen und bin außerstande, mir selbst zu helfen, und wage nicht, sie zu wecken, um sie nicht zu verärgern, denn ich bin höflich zu ihr wie ein frisch Verliebter. Von ihren Launen hängt mein Glück ab, so, wie für den Verliebten von den Launen der Geliebten das Glück abhängt. Im Wesen des Masochismus liegt ein Paradox verborgen, das folgende Form hat: daß nämlich der Masochist wünscht, ihm würde begegnen, was er nicht wünscht. Ich habe weiter oben die Geschichte eines Mannes erzählt, der auf seinen Wunsch hin von einer Frau in einen Keuschheitsgürtel eingeschlossen ist und nun nicht mehr freikommt und den Tag verflucht, an dem er sich auf dieses Spiel eingelassen hat, das sich nun in Ernst verwandelt hat und aus dem es für ihn kein Entkommen mehr gibt, und wie sehr ich diesen Mann beneide (freilich sollte ich diesen Text nicht unbedingt Bia zu lesen geben, um sie nicht auf dumme Gedanken zu bringen). Es ist nicht etwa so, daß ich wünsche, von meiner Frau für immer eingesperrt zu werden: aber ich wünsche unbedingt und dringend, daß es sich bei dieser Möglichkeit um eine reale Möglichkeit handelt, um einen möglichen Ausgang des Spieles. Ich habe meine Vortsellungen, wie oft in etwa ich freigelassen werden möchte, und das Paradox besteht darin, daß ich möchte, daß Bia mir weniger oft Erleichterung verschafft, als ich möchte, daß sie mir verschafft. Ich möchte, daß sie mir antut, was ich nicht möchte, daß sie mir antut. Ein sonderbarer Knoten. Daß jemand möchte, daß er ausgepeitscht wird, nun, daran ist an sich noch nichts paradoxes, es handelt sich dabei um eine sinnliche Erfahrung wie andere sinnliche Erfahrungen auch, und die Geschmäcker sind nun einmal verschieden, aber daß jemand will, daß seinem Willen zuwider gehandelt wird, hat etwas widersprüchliches. Es ist aber so, daß, während ich hier sitze und leicht verwirrt bin vor Geilheit und Verlangen nach ihrem Körper, im gleichen Maß, wie ich unbefriedigt und frustriert bin, ihr Körper, ihre Laune, sie selbst für mich ungeheuer an Bedeutung gewinnen, sie selbst mit ungeheurem Wert aufgeladen werden, sie kostbar wird und gleichzeitig ungewiß, so, wie für den Verliebten die Geliebte ungewiß ist, während die Ehefrau sonst in der Regel etwas erreichbares und gewißes, ständig verfügbares ist. Ich habe es geschafft, Bia wieder in den Zustand der Unverfügbarkeit zu versetzen, und deshalb bin ich jetzt, wo ich dies hier schreibe und seit Jahren mit ihr zusammen lebe, ebenso aufgeregt und verliebt wie damals, als sie mich auf ihr Zimmer einlud. Übrigens bedeutet das, daß ich ihr treu bin, nicht nur, weil es technisch für mich schwierig wäre, ihr untreu zu sein, sondern auch, weil ich permanent in sie verliebt bin, denn wer verliebt ist, ist gewöhnlich auch treu, jedenfalls in meinem Fall ist das so. Es ist also nicht nur so, daß es mit technisch unmöglich gemacht ist, mit einer anderen Frau zu schlafen, sondern darüber hinaus ist auch mein ganzes Begehren auf diese eine Frau konzentriert, mit der ich unbedingt schlafen möchte (die aber leider gerade schläft und einen anstrengenden Tag hinter sich hatte, an dem sie außer einer Massage nichts von mir wollte, so daß ich mich in Geduld üben muß), so daß ich gar nicht dazu komme, an andere Frauen zu denken. Mit der Angst oder dem Schmerz sind ungeheuer intensive Gefühle verbunden, so sehr, daß sie an Intensität allenfalls nur mit außerordentlich gut geglücktem und leidenschaftlichem Sex vergleichbar sind; jedenfalls mir geht es so. Vielleicht blicken deshalb die Angehörigen der Subkultur, die sich dem absichtlichen Herbeiführen von Angst oder Schmerz innerhalb von Beziehungen verschrieben hat, manchmal etwas mitleidig auf die Vertreter des sexuellen Mainstream herab, da diese von diesen intensiven Gefühlen scheinbar ausgeschlossen bleiben, außer vielleicht im Moment des ersten Verliebtseins, nach dem manche Menschen deshalb süchtig sind. Ob dieses hochnäsige Herabschauen gerechtfertigt ist, kann ich nicht sagen: vielleicht erleben ja andere beim ganz gewöhnlichen geschlechtlichen Verkehr eben die

intensiven Gefühle, die der Masochist nur während der masochistischen Inszenierung erfährt. Es erscheint mir unwahrscheinlich, aber solche Fragen lassen sich schwer entscheiden, da Gefühle sich nicht miteinander vergleichen lassen. Ich kann nur meine eigenen Gefühle beurteilen, und da ist es so, daß ich durchaus imstande bin, intensive Gefühle erotischer Art auch ohne masochistische Inszenierung zu erleben, daß aber die masochistische Inszenierung Gefühle ganz eigener Art freilegt, die weder besser noch schlechter sind als etwa der Taumel des Verliebtseins, die aber auch durch nichts zu ersetzen sind. Den Artikel im „stern“, den ich weiter oben erwähnte, habe ich gelesen, lange bevor ich meine erste Freundin hatte, und etwa um die selbe Zeit dachte ich darüber nach, wie sich das „glänzende, harte, unzerstörbare Material“ aus dem Märchen technisch realisieren ließe und wie sich überhaupt eine solche unablegbare Unterhose realisieren ließe, denn gewöhnlich müssen wir unsere Unterhose spätestens dann ablegen, wenn wir uns entleeren, so daß eine unablegbare Unterhose technische Probleme ganz eigener Art im Gefolge hat. Meine Phantasie, in eine solche Unterhose eingesperrt zu werden, hatte ich also lange vor meiner ersten Freundin, und mir war auch schon vor meiner ersten Freundin klar, daß sich etwas derartiges wohl mindestens näherungsweise irgendwie realisieren ließe. Ich hatte zwei Freundinnen, ehe ich Bia traf. Mit keiner der beiden habe ich über diese Phantasie gesprochen. Das liegt daran, daß ich bei keiner von beiden das Gefühl hatte, diese Phantasie könnte bei ihnen auf besondere Begeisterung stoßen. Zwar wäre es vielleicht denkbar gewesen, daß keine von beiden besonders schockiert gewesen wäre, und daß beide, um mir einen Gefallen zu tun, bereit gewesen wären, sich auf die Idee einzulassen, mich in einem abschließbaren Keuschheitsgürtel einzuschließen und den Schlüssel für mich zu verwahren. Aber das waren für mich keineswegs ausreichende Voraussetzungen für das Verwirklichen meiner Phantasien. Schließlich geht es darum, mir absichtlich anzutun, was ich nicht will: das erfordert einerseits ein gewisses Durchsetzungsvermögen, andererseits, wenn es nicht ein völlig albernes Spiel und eine reizlose Inszenierung werden soll, ein gewisses Interesse auf seiten der Frau. Es muß der Frau Spaß machen, mir meine Befriedigung zu verweigern und mich hinzuhalten, denn nur so entsteht das Moment der Unverfügbarkeit, der eigenen Ohnmacht, des Begehrens, des lustvollen Wartens, von dem hier so oft die Rede war. Davon abgesehen, wollte ich keine von beiden zu etwas überreden, was ihr wohl unangenehm und unverständlich, wohl auch unheimlich gewesen wäre. Bei beiden wollte ich, daß sie sich in meiner Gegenwart wohlfühlen, und deshalb ließ ich meine Phantasie unerwähnt. Es kann sein, daß dieses Nicht-Ausleben meiner Phantasie zum Scheitern beider Beziehungen beitrug, aber eigentlich halte ich das für unwahrscheinlich: schließlich ist jede Beziehung ein Kompromiß, in dem nicht alle Phantasien verwirklicht werden, allein schon deshalb, weil manche Phantasien sich gegenseitig ausschließen (beispielsweise habe ich die Phantasie, für immer in einem Keuschheitsgürtel eingeschlossen zu werden; andererseits habe ich die Phantasie, als unendlich wohlhabender Scheich einen riesigen Harem wunderschöner Frauen zu besitzen, die ich mir nach Belieben verfügbar mache; es versteht sich von selbst, daß unmöglich beide Phantasien Realität werden können, weil sie sich gegenseitig logisch ausschließen, selbst wenn wir technische und moralische Probleme außer acht ließen). Ich glaube, wenn es sich herausgestellt hätte, daß Bia eine geistreiche, witzige Frau ist, die leider überhaupt kein Interesse an Perversionen irgendwelcher Art hätte, wäre ich trotzdem bei ihr geblieben. Allerdings hatte ich von Anfang an das Gefühl, sie könnte die Erste sein, die vielleicht einen Teil meiner Phantasien teilen könnte. Vielleicht lag das an ihrer selbstbewußten Art, obwohl ich nicht glaube, daß alle selbstbewußten Frauen zwangsläufig dominant sein müssen. Jedenfalls, nachdem wir einen herrlichen Gemüseauflauf und Eis zum Nachtisch gegessen hatten, fragte sie mich: „willst du jetzt mit mir schlafen?“ „Sehr gerne“, sagte ich. Ich war dann aber so überrascht und eingeschüchtert von ihrer direkten Art, daß ich an jenem Abend impotent war. Ich denke, das war ein rein psychologisches Problem, denn

etwas derartiges ist mir nie zuvor und seither nie wieder danach passiert. Im vollem Wortsinn wurden wir erst am nächsten Morgen um fünf Uhr dreißig auf verschlafene und hektische Art und Weise ein Liebespaar. Ihre ersten Worte danach waren: „Übrigens bin ich zehn Jahre älter als du. Bist du nun schockiert?“ „Nein“, sagte ich, „eher verliebt, glaube ich.“ Dann mußte ich mich eilig anziehen (ich mußte mich anziehen, um über den Gang und ins andere Haus laufen zu können, und ich mußte noch in mein Zimmer, um meine private Kleidung gegen meine Pflegeruniform zu vertauschen). „Können wir dieses Gespräch heute mittag fortsetzen?“ fragte ich. „Ich habe bis siebzehn Uhr Dienst, du kannst um sechs vorbei kommen.“ Mir scheint, unser erstes Mal an jenem Morgen war im Grunde nicht besonders gelungen, ein wenig hektisch, ein Wettlauf gegen die Zeit, verkrampft und mit einer Fremden; die späteren Male waren viel schöner. Der Abend zuvor andererseits enthielt gewissermaßen schon symbolisch die Vorzeichen für spätere Abende: als ich merkte, daß ich zu aufgeregt war, um mit ihr zu schlafen, fragte ich sie, ob ich ihr nicht anderweitig etwas Gutes tun könnte, und schob meinen Kopf zwischen ihre Beine. VII Seither sind wir ein Paar. Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal ihr Zimmer betrat: auf dem Boden stapelten sich unausgepackte Umzugskartons, und überlag lagen Fachbücher und belletristische Bücher, an den Wänden hingen einige einzelne Poster. Ich erinnere mich, wie ich sie das erste Mal nackt sah (und dachte, daß eine nackte Frau immer etwas kleinere Brüste hat als eine bekleidete Frau). Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal ihre Brust berührte und sie erschauerte, wie ich das erste Mal sah, wie sie die Verpackung eines Kondoms aufriß. Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal ihr Geschirr sah (Teller mit einem Muster aus Margeriten, Schneeglöckchen, Buschwindröschen, Kirschblüten und Paradieslilie, inzwischen habe ich diese Teller unzählige Male gespült und kenne ihren floralen Reigen beinahe auswendig). Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal den Geschmack des Schweißes und der Ausscheidungen ihres Schoßes auf meinen Lippen spürte, ich erinnere mich, wie ich das erste Mal mit ihr in den Armen einschlief, wie ich das erste Mal in sie eindrang, und wie ich das erste Mal meinen Samen in sie ergoß (oder eigentlich in das dünne Gummihäutchen). Ich erinnere mich, wie ich an jenem Freitag um sechs Uhr abends auf ihr Zimmer eilte und wir innerhalb von fünf Minuten nackt waren und uns auf ihrem schmalen Bett umarmten. Wie wir uns dann ruhig und friedlich, gesättigt, in den Armen hielten und miteinander redeten und begannen, uns kennen zu lernen. Sie kaufte sich ein gebrauchtes Auto: „Warum kaufst du dir ein Auto in der selben Farbe wie ein Krankenwagen, bloß, weil du Ärztin bist?“ fragte ich sie. „Wieso, das ist doch eine gute Farbe“ sagte sie. „Stimmt“ sagte ich. Dann mietete sie sich eine Wohnung in der Stadt.„Zieh nicht so ein Gesicht“, sagte sie, „wenigstens werden wir in der neuen Wohnung endlich ein breites Bett haben.“ Zuerst fürchtete ich, wir würden uns nun seltener sehen, aber wir schafften es, beinahe jeden abend mittinander zu verbringen. Hatte ich Frühdienst, lieh ich mir ihr Auto, und sie fuhr mit dem Bus zur Arbeit , hatte ich Spätdienst, fuhr ich selbst mit dem Bus zur Arbeit, lieh mir dann aber ihr Auto aus, um zu ihrer Wohnung zu fahren. Gelegentlich hatte sie nachts Bereitschaftsdienst, dann kam unsere Einteilung durcheinander, einmal blieb ich mit ihr eine ganze Nacht wach, und am nächsten Tag fühlte ich mich wie unter Drogen, die Arbeitszeit verstrich quälend langsam und ich bekam mit allen, denen ich begegnete, Streit, so daß ich beschloß, dieses Experiment nicht zu wiederholen. Schließlich zogen wir endgültig zusammen, als ich zu studieren begann. Ich sagte bereits: wäre Bia überhaupt nicht an irgendwelchen außergewöhnlichen sexuellen Experimenten interessiert gewesen und nur die geistreiche und kluge Frau, die sie ist, wäre ich wohl trotzdem bei ihr geblieben. So aber war es nicht: im Lauf unserer Beziehung wagte ich nach und nach, einige besondere Wünsche zu äußern, die ihrerseits weder auf Befremden noch

auf Ablehnung stießen. Wie und wo das Einfließen von Elementen des Nicht-Standard-Sex begann, kann ich nicht mehr recht sagen: zum einen erinnere ich mich nicht mehr im Einzelnen an die Reihenfolge unserer sexuellen Abenteuer, zum anderen ist ja auch nicht klar abgegrenzt, was nun genau noch in den Bereich des Standard-Sex gehört und was bereits nicht mehr. Eines der frühesten Vorkommnisse, das sich als Vorbote späterer Spiele deuten läßt, war vielleicht, als ich an einem Nachmittag mit Bia im Bett zu ihr sagte: „Würdest du mir einen Gefallen tun?“ „Nämlich?“ „Würdest du dich auf mein Gesicht setzen?“ „Gerne“, sagte sie und setzte sich so, daß mein Mund auf ihren Schoß zu liegen kam. Ich begann, an ihr zu lutschen, und sie fragte mich: „Du machst das gerne, mit deiner Zunge diesen Ort erkunden.“ „Mhm“ sagte ich. „Du machst das lieber, als daß du dir von mir den Schwanz lutschen läßt, oder?“ „Mhm“ „Warum?“ Für einen Moment schob ich meinen Mund soweit nach oben, daß ich ihr antworten konnte: „Ich finde es schöner, dir Lust zu bereiten, als selbst Lust zu empfinden. Wahrscheinlich bin ich ein bißchen pervers. Ich finde es schön, einer Frau zu dienen.“ Daraufhin rückte sie so zurecht, daß ich nicht fortfahren konnte zu sprechen. Später, als wir wieder nebeneinander lagen, fragte sie mich: „Findest du es schöner, mich oral zu befriedigen, als mit mir zu schlafen?“ „Das ist schwer zu sagen, das kann man nicht miteinander vergleichen. Es ist wunderschön, mit dir zu schlafen, und es ist wunderschön, mit dem Mund an dir herumspielen zu dürfen, aber beides sind ganz verschiedene Sachen.“ „Aber was ist denn so toll daran, was gefällt dir denn so gut daran, wenn du mit deinem Mund meinen Schoß beglücken darfst?“ „Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, ich mag das Asymmetrische daran, das Selbstlose, das du befriedigt wirdst, und ich unbefriedigt bleibe. Ich mag die Hingabe, die darin liegt. Ich finde es schön, wenn ich das Gefühl habe, daß ich dir diene.“ Ein paar Geschlechtsverkehre später sagte ich zu ihr: „würdest du mir einen Gefallen tun?“ „Nämlich?“ „Würdest du dich auf mein Gesicht setzen?“ „Aber gerne.“ „Nur diesmal anders herum.“ „Wie meinst du das?“ „So, daß dein Hintern auf mein Gesicht zu liegen kommt.“ „Wenn du das gerne möchtest.“ Und sie erhob sich, setzte sich auf mich und drückte mir ihren Hintern ins Gesicht. Zu meiner Überraschung und Freude war sie so schamlos, daß sie mit einer Hand ihre Hinterbacken teilte, so daß mein Gesicht tief im Inneren ihrer Falte zu liegen kam. Ich begann, mit meiner Zunge ihren Anus zu erforschen, und für einen Moment zuckte sie zusammen, ließ mich aber gewähren. Nach einer Weile veränderte sie ihre Lage so, daß ich mit meinem Mund ihre Scham erreichen konnte. Ich befriedigte ihre Lust (ich glaube, es war das erste von wenigen Malen, daß sie einen Orgasmus durch oralen Sex bekam), und dann krabbelte sie von mir herunter, legte sich neben mich, schlang meinen Arm um sich und sagte: „So, Ende der Vorstellung.“ „Und was ist mit mir?“ fragte ich. „Wieso, ich dachte, es macht dir Spaß, mich zu befriedigen.“ sagte sie, und: „schlaf schön, gute Nacht.“ „Darf ich mich wenigstens selbst befriedigen?“ fragte ich, halb im Scherz (denn bis jetzt hatte sie mir etwas derartiges noch nie verboten). „Nein“ sagte sie. Am nächsten Tag sagte ich zu ihr: „Danke für die wunderschöne Nacht gestern abend.“ „oh, gern geschehen“, antwortete sie. Bei einem anderen Spiel ergriff sie die Initiative. Wir lagen ineinander, in Missionarsstellung, und ich bewegte mich hinein und heraus (das übliche eben). Meine Erfahrung mit anderen Frauen ist limitiert, so daß ich nicht recht sagen kann, ob Bia darin eine seltene Ausnahme ist oder ein häufiger Fall, jedenfalls scheint sie um so größere Lust zu empfinden, je tiefer ich in sie eindringe. Infolgedessen ist sie nicht besonders an oralem Sex interessiert, zu meinem Bedauern. Jedenfalls, jedesmal, wenn ich am tiefsten in sie eindrang, begann sie, zu erschauern und zu zucken. Nach einem halben Dutzend Stößen flüsterte sie mir ins Ohr: „Warte“. Ich hielt

inne. „Ich erlaube dir erst, ihn wieder rauszuziehen und erneut zuzustoßen, wenn ich aufgehört habe, zu zucken.“ Ich gehorchte: ich zog mich halb aus ihr zurück, drang wieder ganz ein, sie begann zu beben und zu vibrieren, und erst, wenn sie wieder still dalag, wiederholte ich den Vorgang. Auf diese Art und Weise näherte ich mich unendlich langsam dem Höhepunkt (und mit großer Anstrengung, denn nicht in meinen natürlichen Rhythmus zu verfallen erwies sich als sehr mühsam), wähend sie von einer Ekstase zur nächsten geführt wurde. Schließlich, nach einer Ewigkeit, kamen wir gemeinsam zum Ziel. Nachdem ich eine Zeitlang erschöpft auf ihr liegengeblieben war, regte sie sich, als würde ihr meine Last unangenehm, und ich legte mich neben sie. „Danke“ hauchte sie. „Oh, es war wunderschön“ sagte ich. Einmal gingen wir spazieren, der Sommer hatte begonnen, der Wind hatte einige Kirschblüten auf den Asphalt des sonnengleißenden Weges geweht, kein anderer Mensch außer uns zweien war in Sicht, und sie fragte mich, unvermittelt, das vorangegangene Gespräch hatte von anderen Dingen gehandelt: „Gibt es eigentlich irgend eine sexuelle Pantasie, die du noch gerne ausleben würdest?“ Nun, dachte ich, auf diese Frage gibt es mehrere mögliche Antworten. Die feigeste Variante besteht darin, ihr zu sagen, daß Sex mit ihr großartig ist (was stimmt) und daß ich mir nichts darüber hinaus vorstellen könnte (was nicht stimmt). Die ausweichende Variante bestünde darin, ihr zu sagen, daß ich neugierig darauf wäre, mit ihr Analverkehr auszuprobieren, etwas, was ich weder mit ihr noch mit meinen früheren Freundinnen gemacht hatte. Das wäre dann nicht gelogen, und auch, wenn sie nicht bereit wäre, auf meinen Wunsch einzugehen, wäre sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht schockiert oder entsetzt. Oder schließlich gäbe es noch die Möglichkeit, allen Mut zusammen zu nehmen und ins kalte Wasser zu springen und zu riskieren, daß unsere Beziehung sich ändern kann. Ich ging eine Weile schweigend neben ihr her und sammelte meine Gedanken. Dann sagte ich: „Eine Phantasie von mir, die ich schon ziemlich lange habe, besteht darin, einen Keuschheitsgürtel für Männer zu tragen, zu dem du den Schlüssel hast.“ Sie dachte nach und sagte dann: „das scheint mir ein bißchen schwierig zu realisieren, weil ich nicht recht wüßte, wo wir einen Keuschheitsgürtel für Männer herbekommen sollten.“ „Oh, naja, das wäre nicht unbedingt das Problem. Es gibt Leute, die so etwas herstellen und verkaufen.“ „Ernsthaft?“ „Ja, es gibt sogar eine ganze Reihe von Herstellern.“ „Und warum würdest du so ein Ding tragen wollen?“ „Du hättst dann die ultimative Kontrolle über meine Sexualität, du könntest entscheiden, wann wir miteinander schlafen und wann du mir erlaubst, zu masturbieren.“ „Und das würde dich anturnen?“ „Das ist eine meiner Lieblingsphantasien.“ „Also wie muß ich mir das vorstellen? Du trägst so einen Gürtel und bist mein Sexsklave, und ich bin deine Herrin und entscheide, wann du diesen Gürtel ablegen darfst?“ „So ungefähr“ „Naja, wenn du das willst. Wie teuer ist denn so ein Keuschheitsgürtel?“ „Also, ein richtig guter, der sich tatsächlich über einen längeren Zeitraum tragen läßt, kostet so größenordnungsmäßig um die tausend Mark.“ „Warum so teuer?“ „Naja, er muß individuell an seinen Träger angepaßt werden und ist ein Unikat.“ „Also, meinetwegen kannst du dir so einen Keuschheitsgürtel besorgen. Hast du denn die tausend Mark?“ „Ich fürchte, ich habe sie wohl eher nicht. Wie du weißt, bin ich ein armer Student.“ „Wie wichtig ist dir denn die Sache?“ „Also, es ist in Ordnung für mich, wie wir bisher zusammenleben. Wegen mir ist es okay, wenn alles so bleibt, wie es ist.“ „Aber eigentlich hättest du schon gern so einen Keuschheitsgürtel?“ „Ja.“ „Soll ich dir die tausend Mark leihen?“ „Würdest du das denn machen?“ „Wir sind doch ein Paar, oder? Und wir halten zusammen?“ „Ja, sicher.“ „Das einzige, was ich jetzt noch nicht verstanden habe, ist, warum es dich anmacht, wenn ich darüber zu entscheiden habe, wann du einen Orgasmus haben darfst. Hast du keine Angst, ich könnte das ausnutzen?“ „Ich glaube, das ist ein Teil des Reizes bei der Sache. Ich liebe es, dir Lust zu bereiten, und ich finde die Vorstellung sehr erotisch, dir dienen zu müssen.“ „Ja, das ist

mir bekannt.“ Soweit ich mich erinnere, schwiegen wir danach eine Weile und wechselten dann das Thema. Erst als wir wieder vor unserer Haustür standen, sagte sie: „Du bist schon ein seltsamer Vogel. Aber danke, daß du es mir gesagt hast.“ VIII Während ich an unserem Computer sitze und dies hier schreibe und Bia in ihrem Bett liegt und schläft, höre ich von John Cage das Stück „Four Walls“ in der Aufnahme mit Margaret Leng Tan. Mit seinen Pausen, Lücken und Stillen verweist es in gewisser Weise auf Cages berühmtestes Werk. Die Abwesenheit ist (so scheint es mir) das Thema dieser Musik. Die Stille wird hörbar durch die sie umgebenden Töne. Noch eine weitere, aber vielleicht banalere formale Ungewöhnlichkeit gibt es in dem Stück, die in der Beschränkung auf bestimmte Tasten beruht, wie sie ähnlich auch in so verschiedenen Stücken wie Schostakowitschs C-DurFuge oder dem Kölner Konzert Keith Jarretts auftritt, eine Beschränkung, die ein wenig an Satie erinnert, etwa an die Nahrungsmittel, die Satie in seinem „Tagesablauf eines Musikers“ aufzählt, oder an seine „Träumerei über eine Platte“, und andere derartige Bemerkungen. Die Reinheit, oder die Reinigung von den eigenen Begierden, mag dieser Beschränkung zugrunde liegen. Aber ich schweife ab. Ich mußte mich entscheiden, bei welchem Hersteller ich einen Keuschheitsgürtel bestellen wollte. Ich erwähnte weiter oben meine Besessenheit von einem „glänzendem, hartem, unzerstörbaren Material“. Etwas derartiges habe ich nicht gefunden, aber doch etwas, was dieser Vorstellung einigermaßen nahe kam: ein gewisser Reinhold stellt Keuschheitsgürtel nicht aus Metall her (und auch nicht aus Leder, wie manche Anbieter von billigeren Modellen), sondern aus einem Glasfaser-Epoxid-Verbundmaterial, das die Eigenschaften glänzend und hart erfüllte und zwar nicht unzerstörbar ist, was ja in dieser Welt des Sterblichen und Vergänglichen gar nicht möglich ist, aber doch widerstandsfähig und mit einem inhärenten Schutz gegen unbefugtes Öffnen: wird das Material aufgebohrt, setzt es feine Glasfasern frei, die in die Haut des Trägers dringen. In seinem Design erinnert der Gürtel weniger an die Metallgürtel anderer Hersteller als an eine gewöhnliche Unterhose und entsprach dadurch weit eher meiner fetischistischen Phantasie. Ich fuhr also zu Reinhold, um mich vermessen zu lassen. Der Gürtel läßt sich in jeder beliebigen Farbe färben. Ich entschied mich für einen Gürtel, der vollkommen weiß gefärbt ist. Dann kam die Zeit des ungeduldigen Wartens auf das Eintreffen des Keuschheitsgürtels. In diese Zeit fiel ein anderes bedeutendes Ereignis in der Beziehung zwischen Bia und mir: wir gingen eines abends in Richtung Kino (ich glaube, wir wollten uns den „Gleichheit“-Film von Krzysztof Kieslowski ansehen) und kamen an einem Geschäft mit Brautmoden vorbei. Wir hatten noch Zeit, ehe die Vorstellung begann, und so blieb Bia stehen, und ich mit ihr. Wir diskutierten eine Weile, welche Brautkleider uns gefielen und welche nicht. „Was hälst du von so einem champagnerfarbenen, diese Farbe scheint ja sehr in Mode gekommen zu sein?“ fragte ich. „Überhaupt nichts, wenn, dann will ich ein Kleid ganz in traditioneller Farbe“ sagte sie. Schließlich hatten wir uns auf ein Kleid geeinigt, das uns beiden gefiel. Eigentlich, dachte ich, möchte ich für immer mit ihr zusammen bleiben. Sie ist wunderschön, wir verstehen uns, sie geht sogar, was ich niemals zu hoffen gewagt hätte, auf meine sexuellen Perversionen ein, ich liebe sie, und ich glaube nicht, daß ich jemals wieder einer Frau wie ihr begegnen werde. „Willst du mich heiraten?“ fragte ich sie. „Gerne“, sagte sie und küßte mich und fragte „wann?“ „Sobald wir einen Termin auf dem Standesamt bekommen?“ „Naja, ein bißchen Zeit zur Vorbereitung werden wir wohl brauchen.“ „Was müssen wir denn vorbereiten?“ „Standesamt, Kleid, Photograph, Einladungen, Unterbringungen, Essen, Essen, nochmal Essen, Unterhaltung, und die Hochzeitsreise.“ „Tut es nicht auch etwas weniger

Aufwand?“ „Wann kommt eigentlich endlich dein du-weißt-schon-was?“ „Ist angeblich fertig. Jetzt liegt es nur noch am Versand.“ „Ich mache dir einen Vorschlag: du überläßt mir die Planung der Hochzeit, und ich sorge dafür, daß es eine unvergeßliche Hochzeitsnacht für dich wird, einverstanden?“ „Wer könnte da noch widerstehen?“ Tatsächlich kam am nächsten Tag der Gürtel mit der Post an. „Bekomme ich die Schlüssel?“ fragte Bia, als sie nach Hause kam und den geöffneten Karton im Gang stehen sah. „Erst einmal möchte ich ausprobieren, ob ich den Gürtel ohne Probleme für längere Zeit tragen kann.“ „Oh, du bist immer so ein Weichei.“ „Wie wäre es? Reicht es dir, wenn ich dir die Schlüssel anläßlich unserer Hochzeit übergebe? Vorausgesetzt, der Gürtel stellt sich nicht bis dahin als untragbar heraus.“ „Und was, wenn er sich als untragbar herausstellt? Was machen wir dann?“ „Du bist ja ganz wild darauf, mich in einen Keuschheitsgürtel einzusperren.“ „Sicher. Du wirst es noch bereuen, mir die Schlüssel anvertraut zu haben.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ „Also, was hast du vor, wenn der Gürtel sich als nicht tragbar herausstellt?“ „Dann können wir es immer noch mit einem anderen Hersteller probieren. Ob der dann allerdings bis zur Hochzeit rechtzeitig fertig ist, da habe ich keine Ahnung.“ Es stellte sich dann aber zum Glück heraus, daß der Gürtel in der Tat ohne Probleme für unbegrenzte Zeit tragbar war. „Du kannst damit nur noch im Sitzen pinkeln? Das ist ja phantastisch“ sagte sie. „Erstens“, antwortete ich würdevoll, „habe ich in unserem Bad, seit wir zusammengezogen sind, noch nie im Stehen gepinkelt, und zweitens kann dir das doch eigentlich egal sein, weil ich sowieso das Bad viel öfter putze als du.“ „Sei nicht so vorlaut. Hast du keine Angst, ich könnte dich zwingen, den ganzen Haushalt zu übernehmen, sobald ich die Schlüssel habe?“ „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das nicht ausgesprochen sexy finden würde.“ „Ach, das glaube ich nicht. Irgend wann würde es dir schon langweilig werden. Ich glaube, innerhalb von ein paar Tagen oder Wochen fändest du Badputzen überhaupt nicht mehr sexy, sondern so langweilig wie eh und je.“ Schließlich kam der lang ersehnte Hochzeitstag. Den Keuschheitsgürtel trug ich bereits seit mehreren Tagen am Stück, ich mußte nur die beiden Schlüssel morgens in ein kleines Geschenkpaket packen, während Bia vom Friseur den letzten Schliff erhielt. Als wir dann auf dem Standesamt die Ringe tauschten (wir sind beide Agnostiker und beide aus der Kirche ausgetreten), blinzelte mich Bia so verschwörerisch an, daß es mir siedend heiß unter dem Gürtel wurde. Unglaublich, dachte ich, sie gehört jetzt mir, und ich werde bald ihr gehören. Die Trauung verlief wie in einem Rausch, in einem unglaublichen Hochgefühl, das beinahe den Rest des Tages anhielt, der dann aber, bis die letzten Gäste untergebracht waren, recht lang wurde. Schließlich und endlich waren wir in unserem Schlafzimmer allein. „Ich habe noch etwas für dich“ sagte ich und überreicht ihr das Päckchen. Sie drückte mich an sich und begann dann das Päckchen zu öffnen. Dann erneutes Umarmen und küssen. „Bleib mal kurz hier“ sagte sie und verließ mit den Schlüsseln das Zimmer. Kurz darauf kehrte sie zurück. „Du glaubst ja gar nicht, wie lange ich gebraucht habe, bis mir ein absolut sicheres Versteck für die Schlüssel eingefallen ist.“ sagte sie. „Schade“, sagte ich, „ich hatte mir vorgestelt, du würdest wenigstens einen der Schlüssel als Anhänger zwischen deinen süßen Brüsten baumeln lassen.“ „Oh nein, das ist mir zu gefährlich. Jetzt, wo ich die Schlüssel erst einmal habe, gebe ich sie nicht mehr her, und du könntest ja in Versuchung kommen, sie mir mit Gewalt wegzunehmen.“ „Außerdem dachte ich“ sagte ich und begann die erwähnten süßen Brüste zu massieren „wir hätten heute nacht noch Sex.“ „Keine Angst, ich halte mein Versprechen. Aber ich habe auch noch ein Geschenk für dich.“ Ich schälte sie aus ihrem Kleid, dann aus ihrer Unterwäsche, bis sie nur noch die halterlosen Strümfe trug, die sie extra zu diesem Anlaß und passend zum Kleid gekauft hatte. Dann zog ich mich selbst bis auf den Keuschheitsgürtel aus. Nachdem ich mich ausgiebig verschiedenen ihrer Körperteile gewidmet hatte, begann ich, mit meiner Zunge ihren Schoß zu liebkosen. Das ist das erste Mal, dachte ich, daß ich den

Keuschheitsgürtel trage und sie die Schlüssel hat und meine sexuelle Erfüllung ganz in ihrer Hand liegt und ich sie mit meiner Zunge befriedige, und es ist phantastisch, unwirklich, unglaublich. Wie oft beim oralen Sex kam sie nicht zum Höhepunkt, schien aber schließlich erschöpft und löste sich von mir. „Zeit, dir meine Einkäufe vorzustellen“ sagte sie. Sie stand auf und holte aus ihrem Kleiderschrank eine neutrale Papiertüte, di sie zwischen ihren Kleidern versteckt hatte. Sie holte daraus eine Kette hervor, die Verschlüsse an beiden Enden hatte. „Möchtest du mit mir schlafen?“ fragte sie. „Natürlich, nichts lieber als das“ antwortete ich. „Dann erlaube mir, dich etwas zu sichern.“ Sie befestigte das eine Ende der Kette an dem Gestell unseres Bettes, das andere an meinem Fußknöchel. Beide Verschlüsse waren mit Schlössern gesichert. Die beiden Schlüssel für die Kette trug sie aus dem Zimmer und kehrte dann mit den Schlüsseln für den Keuschheitsgürtel zurück. „Ich nehme an“, sagte sie, „du hast dir das so gedacht, daß ich dich aufs Bett fessle, flach auf den Rücken, und dann mit dir Sex habe, du unten, ich oben. Mir ist klar, daß du lieber unten liegst, ich fürchte nur, es kann eine Weile dauern, ehe du wieder das Vergnügen haben wirst, unten zu liegen. Dieses Privileg wirst du erst wieder haben, wenn ich ausgesprochen großzügiger Stimmung bin. Ich werde jetzt deinen Keuschheitsgürtel aufschließen, durch die Kette wirst du dabei das Bett nicht verlassen können. Am Ende wirst du wieder brav deinen Keuschheitsgürtel anlegen, sobald ich es von dir verlange. Solltest du dich weigern, habe ich noch eine kleine Überraschung für dich.“ Und daraufhin zog sie aus der Papiertüte eine lange, aufgewickelte schwarze Schnur, eine Peitsche. „Nur für den Fall, daß du auf die Idee kommen solltest, hinterher Schwierigkeiten zu machen, oder falls du es wagen solltest, dein Glied mit der Hand zu berühren, habe ich mir diese Peitsche besorgt, um dich notfalls wieder zur Vernunft bringen zu können. Ich hoffe aber, das wird nicht nötig sein, und du wirst dich wie ein braver Sklave benehmen.“ Daraufhin ließ sie die Peitsche wieder in die Tüte zurückgleiten (außerhalb meiner Reichweite) und legte sich zu mir aufs Bett: „Fick mich, Sklave.“ Nach der großartigsten Nacht meines Lebens, und nachdem sie mich wieder sicher in meinem Keuschheitsgürtel verwahrt und mich anschließend von der Kette genommen hatte, lagen wir nebeneinander und streichelten uns sanft. „War das in Ordnung für dich?“ fragte sie mit weicher Stimme. „Es war wunderbar, großartig“, sagte ich, „ich hoffe nur, du hattest auch ein bißchen Spaß dabei.“ „Meinst du das im Ernst? Ich fand es himmlisch, ich hatte nur zwischendurch Angst, es könnte zu arg für dich sein.“ „Hat es dir wirklich gefallen? Oh mein Liebling, mein Schatz.“ Und wir umarmten uns. IX Damit bin ich beinahe am Ende meines kleinen Berichts. Nicht, daß seither nicht noch vieles Geschehen wäre, doch dramatische Änderungen in unserer Beziehung blieben seither aus, und so mag jene Hochzeitsnacht, auf die noch viele ähnliche Nächte folgten, als Schluß meiner kleinen Erzählung stehen bleiben. Die beiden vielleicht wichtigsten Ereignisse seither sind die Geburten unserer beiden Töchter. Außerdem habe ich inzwischen mein Studium abgeschlossen und eine Stelle als Halbtagskraft begonnen: ich kann in meinem Beruf leichter halbtags arbeiten als Bia in ihrem, und so haben wir uns auf diese Lösung geeinigt. Vor unseren Kindern habe ich meinen Keuschheitsgürtel bisher verheimlichen können, und ich hoffe, daß mir das auch in Zukunft gelingen wird. Gelegentlich hat Bia mich seither freigelassen, ohne mich mit der Kette zu sichern: als ich einen Arzt besuchen mußte, als wir in ein Schwimmbad gingen. Solche Momente, in denen ich befreit bin, sind inzwischen für uns beide sehr seltsam, und so eigentümlich es klingen mag, bin ich jedesmal erleichtert, wenn ich wieder den vertrauten Gürtel um meine Taille fühle und Bia die Schlüssel an dem mir unbekannten Ort versteckt hat. Gelegentlich auch habe ich den Gürtel wochenlang ohne Unterbrechung tragen müssen, beispielsweise gleich zu Anfang unserer Ehe, während unserer Hochzeitsreise: Bia hatte den Schlüssel absichtlich daheim liegen lassen, verriet es mir aber erst, als wir bereits im

Zug saßen. Sie wolle, sagte sie, mich daran gewöhnen, daß sie mich für unbestimmte und unbegrenzte Zeit einschließen könne. „Aber keine Angst, solange deine sexuelle Performance derart überwältigend bleibt, besteht keine Gefahr, daß ich irgendwann einmal überhaupt keine Lust haben könnte, dir einen Freigang zu gewähren“ sagte sie und küßte mich, während der Zug uns in ein fernes Land trug.

Related Documents


More Documents from "jc40346"