Neue Berliner Illustrierte / Sonderheft / 1987

  • Uploaded by: German History
  • 0
  • 0
  • January 2021
  • PDF

This document was uploaded by user and they confirmed that they have the permission to share it. If you are author or own the copyright of this book, please report to us by using this DMCA report form. Report DMCA


Overview

Download & View Neue Berliner Illustrierte / Sonderheft / 1987 as PDF for free.

More details

  • Words: 41,421
  • Pages: 120
Loading documents preview...
Erich Honecker: Gedanken zum Jubiläum

Als Stadt des Friedens weltbekannt, zeugt Berlin vom Schöpfertum des Volkes und der Lebenskraft des Sozialismus •

Der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, auf der 2. Tagung des Komitees der Deutschen Demokratischen Republik zum 750jährigen Bestehen Berlins am 26. September 1986:

erlin ist die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Es ist das geistig-kulturelle Zentrum der sich in der DDR herausbildenden sozialistischen deutschen Nation. Einst Ausgangspunkt von zwei verheerenden Weltkriegen, ist Berlin heute als Stadt des Friedens weltbekannt. Das Jubiläum gibt reichlich die Möglichkeit, unseren Blick sowohl auf die 750jährige Vergangenheit als auch auf die Gegenwart und Zukunft Berlins zu schärfen.

B

turstätten und kulturhistorische Bauten erstrahlen im neuen Glanz. In den traditionellen Wohnbezirken verändern ganze Straßenzüge ihr Antlitz. Wo einst Baulücken waren, sind attraktiv gestaltete neue Häuser entstanden. So zeigt sich, daß wir das Jubiläum Berlins vorbereiten, indem wir entsprechend unserem großen Wohnungsbauprogramm die Wohn- und Lebensverhältnisse der Bürger ständig verbessern und konsequent die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik realisieren.

schichte Berlins an Gutem und Fortschrittlichem gegeben hat. Die Ideen und Taten der besten Söhne und Töchter des deutschen Volkes gehören wie das progressive Gedankengut der anderen Völker ebenso zu den Quellen unseres Lebens, wie all das, was die Arbeiterklasse und alle Werktätigen unseres Landes beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft auf deutschem Boden geschaffen haben.

it freudiger Erwartung sehen wir den zahlreichen internationalen Gastspielen und den Festbeiträgen unserer eh möchte die Gelegenheit nutzen, um den Berliner Bauarbeitern und allen ih- Künstler entgegen. Es wird schwer, sich eine ren fleißigen Kollegen aus den Bezirken, Veranstaltung auszusuchen, aber jeder wird insbesondere auch unseren Freunden von etwas für seinen Geschmack finden. Ein beder »FDJ-Initiative Berlin«, für ihre Arbeit sonderer Höhepunkt wird sicher der historizur attraktiven Ausgestaltung der Haupt- sche Festumzug am 4. Juli 1987 sein. An diesem Tag, am 4. und 5. Juli auf dem historistadt sehr herzlich zu danken. Man kann schon heute sagen, daß wir das schen Markt im Zentrum Berlins werden die 750jährige Bestehen Berlins als ein großes Besucher der Geschichte und Gegenwart Volksfest der Lebensfreude und unseres der Stadt in Bildern und Darbietungen beFriedenswillens begehen. Jeder, der mit of- gegnen. Bürger in Kostümen der vergangefenen Augen und offenem Herzen dabei ist, nen Jahrhunderte, hoch zu Roß oder in hiwird sehen, daß in unserer Deutschen De- storischen Fahrzeugen, die Berliner Origimokratischen Republik alles, aber auch alles nale vom Eckensteher Nante bis zum getan wird, damit von deutschem Boden nie- Hauptmann von Köpenick, die Leierkastenmals mehr Krieg, sondern nur Frieden aus- männer und viele andere werden sich auf geht. Straßen und Märkten ein stimmungsvolles Stelldichein geben. Volksfeste in allen Stadtür das Volk der DDR bilden der Kampf bezirken vom »Sommer in Monbijou« über um den Frieden und die weitere Gestal- den »Köpenicker Sommer« bis zum »Weitung der entwickelten sozialistischen Ge- ßenseer Blumenfest« und dem »Erntefest in sellschaft eine unlösbare Einheit. Diese Ein- Hellersdorf«, das große Berliner Wasserfest heit ist eine wichtige Wurzel des unerschüt- auf allen Seen der hauptstädtischen Umgeterlichen Vertrauens, das unser Volk und un- bung, repräsentative Ausstellungen zu sere Partei verbindet. Das kommt in den Kunst, Wissenschaft und Produktion, die Leistungen der Arbeiterklasse und der Ge- neueröffnete »Berliner Gartenschau« im Berlin erblüht schöner denn je auf dem be- nossenschaftsbauern, der Wissenschaftler künftigen Erholungspark in Berlin-Marzahn währten Weg der Politik zum Wohle des und Künstler, der Handwerker und aller und viele andere Veranstaltungen werden Volkes. Der XI. Parteitag der SED hat die- Werktätigen zum Ausdruck, die sich unab- das Jahr des Jubiläums zu einem Jahr voller ser Arbeit neue Impulse gegeben. Diese Er- hängig von ihrer Weltanschauung oder Kon- Erlebnisse und bleibender Erinnerungen gegebnisse künden vom Schöpfertum der fession für die Stärkung des Sozialismus, für stalten. Mehr denn je wird man sagen könMenschen unseres Landes und von der Le- die Sicherung des Friedens einsetzen. Das nen: Berlin war eine Reise wert. benskraft des Sozialismus auf deutschem zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Werktätigen ihren Arbeitsplatz zu Recht als einen emeinsam mit ihren Gästen aus nah Boden. Mit Genugtuung können wir feststellen, daß Kampfplatz für den Frieden betrachten und und fern werden die Berliner in einer sich das Antlitz unserer Hauptstadt täglich auch dementsprechend handeln. weltoffenen Atmosphäre das Jubiläum verschönert. Berlin wächst, drei Stadtbe- Die produktive und zugleich schöpferische ihrer Stadt feiern, ein Jubiläum, das vom zirke, Berlin-Marzahn, Berlin-Hohenschön- Aneignung des humanistischen, progressi- Glück des Volkes, vom Geist des Friedens hausen, Berlin-Hellersdorf, im Umfang von ven und revolutionären Erbes, das mit der und der Völkerverständigung künden wird. drei Großstädten sind ihm hinzugefügt wor- Geschichte Berlins verbunden ist, unter- Dafür lohnt es sich, täglich seine ganze den. Weitere Neubauviertel entstehen und streicht: In der Deutschen Demokratischen Kraft einzusetzen. prägen ihre kommunale Struktur aus. Kul- Republik wird dafür gearbeitet, die Schönheit und den Sinn des Lebens im Sozialis- Rechts: Bei der Schlüsselübergabe des Sportmus mit all dem zu verbinden, was es in der und Erholungszentrums. Foto: Sandberg Geschichte der Menschheit, in der Ge-

750 JAHRE BERLIN

I

M

f

G

SEITE 2

NBI 1987



Gruß den Berlinern und ihren Gästen Von Erhard K.rack, Oberbürgermeister von Berlin

B

erlin feiert sein Jubiläum. In den Thesen zu diesem Ereignis wird die Metropole der Deutschen Demokratischeri Republik »eine politisch stabile, leistungsfähige und attraktive Weltstadt« genannt, »die durch wirtschafiliches Wachstum und soziale Errungenschaften, durch eine Blüte der Wissenschaft und Kunst gekennzeichnet ist«. Zugleich heißt es: »Diese Stadt ist das Werk ihrer Bewohner, das Werk der ganzen Bevölkerung der DDR.« Unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei, durch das Zusammenwirken aller mit ihnen verbündeten Kräfte wurden beispielhafte Leistungen vollbracht. e Berliner haben sich auf die SO-Jahr-Feier mit erfüllten Plänen und vielen gesellschaftlichen Aktivitäten gut vorbereitet. Hohe Leistungen in Industrie und Bauwesen. in Forschung und Entwicklung, in der Kunst und in vielen

11.

bezirke oder in den neuen, großen Wohnkomplexen an der Peripherie - überall verwirklichen Architekten und Bauarbeiter die gute, auf das Wohl des Volkes gerichtete Politik der SED. en Bauschaffenden aus der Hauptstadt und ihren hier tätigen Berufskollegen aus der ganzen Republik, insbesondere den Delegierten der »FDJ-Initiative Berlintc möchte ich - zugleich im Namen de Magistrats - meinen Dank für verantwortungsvolle Arbeit sagen, die sie links und rechts der Spree leisten. So wie sich Zehntausende Werktätige aus den Bezirken des Lande täglich für ihr Berlin engagieren, so unterstützen die Berliner auf verschiedene Weise die dynamische Entwicklung der ganzen Republik. Mit gewohntem »Berliner Tempo« vollbringen sie Beispielgebendes in Wissenschaft, Produktion und Technologie. Die Früchte ihrer Arbeit werden vielfältig zwischen Rügen

D kommunalen Bereichen trugen dazu bei, das Leben der Menschen zu bereichern und die Stadt immer anziehender und liebenswerter zu gestalten. Noch nie wurde in Berlin so viel und so schnell gebaut wie in den letzten Jahren. Ob im Zentrum, in den traditionsreichen Gebieten anderer Stadt-

und Fichtelberg, zwi eben Oder und Werra spürbar und bringen auch dort meßbaren Nutzen für unseren Staat. ie Bürger der DDR und Besucher aus aller Welt sind willkommen, die in Berlin deutlich sichtbaren Erfolge des Sozialismu in Augenschein zu nehmen und gemeinsam mit uns dieses Fest der Leben freude und des Friedenswillens zu begehen Volksfeste, Märkte, Austeilungen, Kongres e und andere internationale Begegnungen, Sportereigni. e owie weit mehr als tauend kulturelle Veran taltungen sorgen dafür, daß 1987 diese Stadt immer etwas für Auge und Ohr zu bieten hat. Wir \\Ollen dabei zugleich deutlich machen : Berlin ist eine Stadt des Fneden . Berlin zeigt sich auch 19 7 eltoITen und freut sich auf viele Begegnungen mit Gästen, die gemein m mit uns für eine glückliche Zukunft der Menschheit eintreten.

D

Im Herzen der Hauptnadt: Dis Mn-Engels-Forum mit dem w.n Bildhauer Ludwig Engelhardt gestll/tften Denkmal SEITE4

NBI 1987

Rückblick Bilder einer Stadt und ihrer Geschichte

w„

Wo Berlins stand S. 6 Ein Streifzug durch das hi torische Nikolaiviertel

Stimmen ,;,,,, St.ldt

S. U

Humanistisches Credo aus drei Jahrhunderten

Eine 9f!le Messe

S. 16

Bertin - Treffpunkt der Ventlndigung, Stitte konstruktiven Oialop

IJotlchalt in Liedern S. 20 Weltbekannte Künstler zu Gast in Bertin

Berlin, meine Liebe

S. 22

Eine Bildbetrachtung von Gisela K.arau

„,,.,,

Für die Augen nicht machen S. 38 Friu Cremer und seine »Muttervordem Perpmonaltar4C

Gllle ,._,pi..

S. "1 Geburtstappost aus Moskau, Wien, Mexico-Stadt „. Spcntr ins Heute S. '2 Ein Stadtplan enlhlt Geschichte

Lichtlabrilt ,,, ,,,;,,;,,,., S. '8 Von der Geburt eines Mikrochips und der Ehe zwischen Praxis und Forschuna

Einblicke

S. 52

Bilder und Bilanzen vom Alltaa an der Spree

Mn und Engels in Berlin S. 60 Vom Doctorclub bis zu den Concordia-Festsllen

NBl-Soadenusg•be

,,,..,,,

Gatitten, Berlin/

S. 6'

Ausflüge in die königliche Bibliothek, das neue Grandhotel, an Berliner Badestrlnde und viele andere Schauplitze

S. 103

Mitten im MiHjiJh S. 70 Erlebnisse der Rentnerin'

Marienkirche

Von Leuten, die mit hauptstldtischem Namen leben

0. Licht sei ein Zeichen S. 1tU Begegnungen in der Des KIJnigs /lock S. 106 Ökonomie und

R.ambalski und einer Bauarbeiterbrigade aus Schwedt

Machtpolitik in der brandenburgisch-preußischen Residenzstadt

w,,,,__,,

Einsteinlnldal

Hohe Schule der Medizin

S. 76

Der Appell des großen Gelehrten für ein neues Denken im Atomzeitalter

S. 108

Oie Charite, wie sie noch keiner sah

Oie Lindenoper

Oie ToltJrlnzstnlk S. 80 Heinz Knobloch führt

s. n2

Knobelsdorffs traditionsreiches Haus in neuem Glanz

durch die Große Hamburger

Litfallslule S. 83 Ein Wepeiser zu

Superlatire S. "' Du HOchste, Ungste

Berlins Attraktionen bei Taa und bei Nacht

und Ausgefallenste in Berlin

,.,,,,,

Eisbein, Bocbnnt und

Nicht mehr IHlller fremden Himmelnc S. 9' Vertreibung, Exil und

S. tt5 Berliner Küche im Wandel der Zeiten

Heimkehr namhafter Geistes§Chaffender

Stimmtisch S. tt6 Ein Disput in der

Perspft tiren S. 96 Ansehnliches am Rande

»Letzten lnstanz4C

der Stadt

Sourenirs

s. n9

Der lmte Tag neigt sich zwn

Jubiliumsvorschllge der NB 1-H umorzeicbner

Ende S. 98

Eine Erinnerung an Helden des antifaschistischen Widerstandes

Unsere Abbildungen zeigen : Berlin um 1688 Revolutionstage IMS (Neuruppiner Bilderbogen) • Unter den Linden heute Foto: Gerhard K.ieslina Repros: Archiv

Gefragte Präzision S. 100 Spitzenleistungen des Berliner Werkzeu&Jllaschinenkombinats Chefredakteur: Wolfgang Nordalm Stellvertretende Chefredakteure: Kart Barth, Dr. Günter Blutke, Siegfried Schröder Gestaltuna: Gerhard Schmidt Bild: Peter Leske Innenpolitik: Volker Schielke Wirtschaft/WwenschaO: Klaus George Außenpolitik : Peter Jacobs

NBI 1987

nach vorn

Tatsachenberichte: Gerhard Sch1esser Kultur/ Sport : Joachim Muß Ratgeber/ Freizeit: Hans Prana Panorama: Heinz Rosenkranz Leserverbindungen: Christa Ouen Redaktionelle Mitarbeit an diesem HeO: Günter K.araut, Jochen Moll, Horst Wagner, Heiner Feil

litelgestaltung: Jo Fritsche Farbfoto: Gerhard K.ieshna Neue Berliner Illustrierte Karl-Liebknecht-Str. 29 Berlin 1026 Telefon: 2440 (Auskunft) Telegramm-Adresse: Illustrierte Bertin: Telex 0 114 854

NBI erscheint im Allgemeinen Deutschen Vertag Verlagsdirektor: Erich Reimann Lizenz-Nr. 229 des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR Druck: Berliner Druckerei Artikel-Nummer (EDV) 960 006 Redaktion schluß: Februar 1987

SEITES

Wo Berlins





Erntezeit vor den Toren Berlins - dieser Kupfetstich ist eine der schönsten Darstellungen der mittelalterlichen Stadt. Man erkennt unter den vielen Türmen auch den der Nikolaikirche. X

iegestand ier, wo Berlins Wiege war, ist in den letzten Jahren ein neues Viertel entstanden, ein beispielhaftes architektonisches Ensemble moderner Wohnhäuser und historischer Bauten.

H





Berlin um 1650, Kupferstich von Meria

Wo Berlins Wiege stand Gehörten einst zum lnrentar des Berliner Ra~ jagdtlitMgell/J in

fonR„ ....

(15. }ahrflundert) und ein

rergoldeter Trinkb«her (17. jahrlwndert) mit den Symbolen W1l1 Berlin {Bit} und Cölln (Adler)

Die Katte zeigt Berlins Urstromtal um das Jahr 1237. An der Rachsttn Stelle der Spm, einer Furt, lagen die Sdtwesterstldte Cölln und Berlin. Seide Orte, W1l1 Kaufleuten, Handwerkern und Ackerbürgern gegründet, sind als Rastsi«Jlungen entlang wichtiger Handelsstraßen entstanden. Sie wnn lnstJlstidte, und ihre einzige Verbindung wir der Müh/endamm. Dieser führte zum .Olde Markt•, splterhin Molkenmrit genannt, dessen Mittelpunkt die aus Feldsteinen erbaute Nikolaikirche bildete. Im Jahre 1237 wurde Cölln und im Jahre 1244 Berlin erstmals ur*undlich f1rWihnt. Dokumente lmen wmnuten, daß beide Siedlungen zwischen 1230und1250 das Stadtl'teht trhielten, retliehen W1l1 johlnn /. und Otto III., Urenktl des ISUnischen Eroberers der Mn Brlndenbwg, Albtecbt des Bllen. NBI 1987

Dieser Konsolkopf aus dem 15. J""hundert

stammt

'°"'

111111$ des Std'UWUUl~H-lllOll• 111;_;„_

Thomas Blankenfelde, der einst am alten NikollMerttl wohnte. Der Kopf btlindel sich im Mlriischen Museum.

Der Neuaufbau am Gründungsort Berlins begann ror S«hs Jahren. Um die Kirche herum entstand ein Ring moderner Wohngebäude und rieler kleiner Bürgerhäuser, die den Baustilen des 17. und 18. Jahrhunderts nachempfunden sind. Ein Handwerkermuseum erinnert daran, wem die mittelalterlichen Städte Berlin und Cölln ihren wirtschaftlichen Aufschwung zu rerdanken hatten. Die iltesten ur*undlich erwihnten Berliner Gewerbe waren Bäcker, Schuhmacher, Tuchmacher und Fleischer. Sie erhielten bereits im 13. Jahrhundert eigene Satzungen. Aus dieser Zeit stammt die historische Berliner Gerichtslaube, die in der Poststn& originllgt!treu ~ ...... Einst befand sich hier der Sitz des Rates. Heute beherbergt das Haus mit seinen gotischen Maden eine Gaststltte. SEITE9

So sah die Baustelle noch 1981, zu Beginn der Arbeiten aus. 1982 erliielt Berlins iltestes Bauwerk wieder beide Türme. In nur sechs Jahren wurde das Viertel von Bauleuten und Spezialisten aus Berlin und den Bezirten Potsdam, Suhl, Kar/-ManStadt, Cottbus und Leipzig errichtet. Es entstanden neue Wohnungen für rund 2000 Eimrlbhner. In den Stra8en und Gassen gibt es 32 Läden und 23 Gaststätten. SEITE 10

NBI 1987

Bauleiter Uwe Strathmann: Ein Werk des ganzen Landes

Wo Berlins Wiege stand

Von links nach rechts: Dezember 1981: Die Tunnhtlme wetden am Boden montiert. August 1981: Eine technische Meisterleistung gelang Spezialisten aus Leipzig, als sie mit Hilfe

eines Mobilkranes der Nikolaikirr:he beide Türme aufsetzten.

Oktober 1981: Die Türme sind aufgtsetzt, Klempner aus Bad Salzungen decken Bleche auf die Spitzt. NBI 1987

Wenn ich über die Baustelle gehe, passiert es schon, daß ich angesprochen werde: Touristen suchen das Ephraim-Palais, Bewohner laden zur ersten Hausversammlung ein, ältere Bürger drücken ihre Begeisterung aus über vieles, was das Viertel wohnlich macht - Blumenrabatten, Parkbänke und anderes mehr. Wir Bauleute freuen uns, mit welcher Entdeckerlust die Berliner und ihre Besucher durch die neuen Gas en und Straßen strömen. Und welche Neugier erst bei den Mietern, die ihre neuen Wohnungen in Augenschein nehmen. Zuerst der Blick aus dem Fenster: Aha, da sind Türme! Dann sucht man die mittelalterliche Gerichtslaube oder das rekonstruierte Knoblauchhaus mit den historischen Weinstuben. Man ist sich derbesonderen Wohnlage bewußt. Und des Menschengewimmels, sobald man seinen Fuß vor die Haustür setzt. Dieses Kommen und Gehen - vor sechs Jahren konnte sich das wahrlich keiner vorstellen. Für uns war es zunächst nicht immer die reine Lust, den Baugrund freizulegen. Welches Bild bot sich uns, als wir verschüttete Keller öffneten. Der Krieg war plötzlich wieder gegenwärtig: Alles war verbrannt und verkohlt, selbst Rohrleitungen und Klinkerziegel geschmolzen. So einen Stein habe ich aufbewahrt; er stammt aus den alten Grundmauern jenes Hauses, auf dem heute in großen Lettern steht : Berlin - Stadt des Friedens. Unsere Zeit ist schnellebig. Wie viele Ereignisse haben sich für uns auf diese wenigen Jahre zusammengedrängt. Unvergeßlich aber ist für mich jener Tag, an dem wir Berlins ältestem Bauwerk - der Nikolaikirche - im Sommer 1982 wieder beide Türme aufsetzten. Als Bauleute spüren wir besonders deutlich, daß unser aller Mühen Sinn und Zukunft hat. In unserem lande ist das große Bauprogramm erklärte Staatspolitik. Für mich ein überzeugendes Symbol unseres Friedensstrebens. Als wir mit dem Wiederaufbau des Viertels begannen, waren wir ein junges Kollektiv. Beileibe nicht alles Berli-

ner. Ich stamme beispielsweise aus Neuruppin. Andere kamen aus Suhl, Nauen oder Plauen. Bauleiter im Nikolai-Viertel zu sein, bedeutete für mich eine Herausforderung. Tagsüber arbeitete ich auf der Baustelle, und Abend für Abend saß ich über Büchern und historischen Berlin-Dokumenten. Nach alten Unterlagen bauten wir zum Beispiel am Nikolaikirchplatz jenes Bürgerhaus wieder auf, in dem Lessing von 1752 bis 1755 gewohnt hat. Wir machten uns kundig über Lessings Wirken in Berlin, über seine Freundchaft mit Moses Mendelssohn, dem er mit seinem » Nathan<< ein Denkmal setzte. Dieses Theaterstück hat ja in der Geschichte Berlins seine besondere Bedeutung: Es war die erste Aufführung nach dem Krieg, als die verwüstete Stadt zu neuem Leben erwachte. Das Nikolai-Viertel steht auf geschichtsträchtigem Boden. So wurde die Idee geboren, die wichtigsten Daten der Stadtgeschichte hier auf einem Denkmal in Stein zu meißeln. Dort wird auch an jüngste Vergangenheit erinnert, daran, daß die weitere Ausgestaltung der Hauptstadt zur Sache des ganzen Landes wurde. Es ist für mich und alle meine Kollegen eine besondere Ehre, daß auf diese Weise festgehalten wird, wie Tausende junge Bauleute vor allem in der FDJ-Initiative, aus den Bezirken nach Berlin gekommen sind. Schließlich haben wir gemeinsam mit den Berlinern die Stadt zu dem gemacht, was sie heute ist. Und wir werden weiter bauen.

SEITE II





en

Lebendiges Vermächtnis, verpflichtendes Credo sind diese Stimmen: Worte einiger hervorragender Frauen und Männer, deren Wirken ganz wesentlich verbunden ist mit der Geschichte Berlins.



Fol#:J. Mol 1'1-Aldtlr, lllpo: • ....

......

Eineguö

B

erlin, Haus des

Staatsrats der DDR: Das Staatsoberhaupt empfängt das Diplomatische Korps, Abgesandte von Staaten aller Kontinente. Wer Partner sucht für aufrichtigen politischen Dialog und gleichberechtigte Kooperation, für den ist unser Berlin eine gute Adresse, ist es doch Hauptstadt eines Staates, der nach einem Wort Erich Honeckers bestrebt ist, »zum Zusammenschluß derjenigen in der Welt beizutragen, die der Vernunft und dem Realismus folgen, der Zusammenarbeit den Vorzug vor der Konfrontation, der Abrüstung vor der Hochrüstung geben«. SEITE 16

NBI 1987



dresse

SEITE 17

...

s geschah im Gebäude des Staatsrates, als am Weltfriedenstag des Jahres 1986 Volk und Staatsführung der DDR, wie schon oft zuvor, ihr auf gegenseitigem Vertrauen beruhendes gemeinsames Wirken für den Frieden manifestierten. Am Vorabend des Jubiläums der siebenhundertfünfzigjährigen Stadt wurde erneut sichtbar, daß sich unser Berlin des ihm 1979 verliehenen Ehrentitels »Stadt des Friedens« würdig erweist. Professor Günther Drefahl, der Präsident des Friedensrats der DDR, überreichte Erich Honecker den Report »Die DDR im Internationalen Jahr des Friedens«, eine Bilanz vielfältiger Aktivitäten der Bürger unseres Landes, und betonte : >>Buchstäblich das gesamte Volk der DDR reiht sich ein in die alle Kontinente, alle Länder der Erde, alle Klassen und Schichten, alle Weltanschauungen und politischen Strömungen, alle Generationen und Geschlechter umfassende Front des Friedens und des Lebens, in diese immer mächtiger werdende weltweite Koalition des politischen Realismus und menschlicher Vernunft.« Dieses Friedensstreben ist in unserer Republik Staatspolitik. Erich Honecker bekräftigte das in seinen Dankworten. »Im Namen der Partei- und Staatsführung der DDR erkläre ich«, sagte er, »daß die DDR auch künftig in vorderster Reihe der Verteidiger des Friedens stehen wird. Wir werden alles tun, damit die J(jnder und ihre Eltern, damit die Bürger unseres Landes, ja alle Menschen in Europa und in der Welt vor der atomaren Vernichtung bewahrt bleiben.« Diesem Credo ist jede politische Aktivität verpflichtet, die von unserer Republik und ihrer Hauptstadt ausgeht. So hat der X 1. Parteitag der SED die Notwendigkeit bekräftigt, in der internationalen Arena »nicht in den Denkschablonen der Konfrontation und des Strebens nach militärischer Überlegenheit zu verharren, sondern auf neue Weise an die Dinge heranzugehen, neue Formen und Verfahren in den Beziehungen zwischen den verschiedenen sozialen Systemen, Staaten und Regionen zu finden«. Eng verbunden mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten, was Jahr für Jahr gerade auch in Berlin durch herzliche Begegnungen führender Repräsentanten der sozialistischen Länder dokumentiert wird, führen die Staatsmänner unserer Republik das Gespräch mit verantwortungsbewußten Politikern aus aller Welt. Oft erlebt Berlin den Besuch von Staats- und Regierungschefs, Parlamentspräsidenten und Ministern, Parteivorsitzen-

E

SEITE 18

den und führenden Vertretern internationaler Organisationen. Repräsentanten aller Staaten Europas, der Bewegung der Nichtpaktgebundenen, aus Ländern unterschiedlicher Regierungsformen treffen sich im Zentrum unserer Hauptstadt im Geist friedlicher Koexistenz. Bedeutende internationale Treffen vereinen in Berlin Abgesandte aus allen Kontinenten. So die 1983 anläßlich des hundertsten Todestages von Karl Marx veranstaltete Wissenschaftliche Konferenz »Karl Marx und unsere Zeit - der Kampf um Frieden und sozialen Fortschritt«, an der sich 145 kommunistische und Arbeiterparteien, revolutionäre Vorhutparteien, nationalrevolutionäre Parteien und Befreiungsbewegungen, sozialistische und sozialdemokratische Parteien aus 111 Ländern beteiligten. So die Weltfestspiele von 1973, der Weltfrauenkongreß von 1975, die Tagung des Weltfriedensrates von 1979, die Konferenz der Interparlamentarischen Union von 1980 oder der Weltgewerkschaftskongreß von 1986. Die Zeit liegt nicht allzuweit zurück. als man westlich unserer Staatsgrenze noch diejenigen mit Sanktionen bedrohte, die in offiziellen Kontakt mit der DDR treten wollten. Die Geschichte hat darüber ihr Urteil gesprochen. Die Wahrheit aber ließ sich schon damals nicht verkleistern. 1951 war es, als sich die Jugend der Welt in Berlin zu einem ihrer schönsten Festivals traf. »Zum erstenmal in der deutschen Geschichte«, schrieb Erich Honecker, damals Vorsitzender der FDJ, »kam es in den Augusttagen des Jahres 1951 zur massenhaften Begegnung der deutschen Jugend mit Jugendlichen aus Ländern aller Kontinente nicht auf dem Schlachtfeld, sondern auf dem Feld des Friedens und der Völkerverständigung.« In dieser Stadt hatte Erich Honecker 1935 an der Spitze ~er illegalen Berliner Organisation des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands gegen die heraufziehende Kriegsgefahr gekämpft, ehe ihn die Faschisten in Brandenburg einkerkerten. In dieser Stadt wirkt er heute als Generalsekretär der führenden Partei unseres Landes und Staatsoberhaupt der DDR, als ein in aller Welt geachteter Staatsmann des Friedens. Von ihm stammt das Wort, daß es angesichts der Drohung eines nuklearen Infernos nun erst recht gilt, für den Frieden zu kämpfen. Allein schon diese Verpflichtung, knappste, aber sinnfälligste Zusammenfassung der Politik unseres sozialistischen Staates, erklärt, warum seine Hauptstadt für alle, die den Weltfrieden bewahren wollen, eine solch gute Adresse ist. Hans-Dieter Bräuer

IM"""'*'-' ....,,

2

2



........

. . , , . . ,

7

...

•MMm• „„, •• ·„_ ....„.•• „

... :ltt'llJ' • Js 'lt'•

•t .•

-t'„. ,,,,„ .......... .„. , , !# . • ....„ MMilf „...... ........ „ 0

5

'[

Glllrlllillr• Ir

W.e.t• ....

Q41'° -,J. . . . '. · . ..

...... ,.

„,,,..,,.,., *"""""'• „., ••'*-. „,. :A • • •

"* 0 r·Clilt „..........

,...... .„ •

11

NBI 1987

Eine gute Adresse Or"1 t

, •

.„ ..... „.......... tf'p - · -

: :: w: „ 'e ............ ..........,,,., li

1

1

\t

..... ,.„,.....

„...,,,,,,,,,...

„ ..e,.... . . ...... „,,,„ am *"""""'.... „. .„ ,...... . . . . . . .

µ7!

1

••1rs;1•t•• .,.,.. ._L,,,,.._

1

1....„„.,,. e

("lli

t'n

.... t

5

GI • t :9'a..

1

...

•llO „. 1 .... r ..,...••a.t „ ... „... IAlllr„ •„,.„,...... arrz t -'*S

• e sn j t 'X 1 •1s e ......,

t

't

Spe t •••1:11p1 •A

--~~~~~~~~~~~~~~~

r• ,,„ „......... "« ....

111.Wlllt. . . .

............ 1

"MpF"

......

II

t

li

lrz

1

1

6*t ,,,,,,.,,

!'

1

S.

0

IJ 1 •

S II ß' 1 1""" "'81W'ßbl III Spe h #hl Ha Ir'

e• ..... „,,, „....... """,.,,. ,,.,,...... 7

1

,_,.....,.

1 'lßa~

~

lillik , . . üit. MaW•r dl 1

•' 'I , a---, ,..an

NBI 1987

SEITE 19

..... 1. . . . .

x.w•„..._

......... „,.., „,.... -••c••-•

Utdll • lrit . . . . . 6tUJ U!ta1md

6~ ........ Ll6Ms.

„Siii. . . .

• • 1. . . .

„.

'*'""'**'..,...... /llfllld.,.,. Mit. lllJltl#.,. ___ "'Mrflf - -

"""" ...... -

lilld lritld

..,., 1111r.

~

„ ..... ,.....

"'- 5"'"' ............

„~-

FoD:,,.,.....,,

V. l'r•wn 4 A. P..d wWo

.z.u..:t

Katja ElDill (BRD}

&III• Ur6m,

- ""MI/ .... - ........ „ """"' ...

""'fiibt. z,,,. ,,._,.. """ ... Killd. - . . .... f i .... lrot llfit .,.., {Alll .C,.,., , , . FSLN. • ,,,. GodorJ



"'„........ „ „.....,„.,,, ••UM ...

,,,,. _ . 18 ... • ' '" t' ':O

ot..M .,,tla-ltlllll _ _,•,.."'*""" 1 s ....... -„ ............ ""* .......... „ ... ""*•' „„ .......... --·-"". ,__....,;, .............. 4lr,,,,."' • . - • • • 4 r r ,„ ... a'*' rl

}""1e lidtl ....._ 'r ~ , tJ J

.........

d •• Mailllt

OOI.

~

........... . , , ...„,.....„ ...„....,„„_.,, ...„,,..w.. .....,..---.... „„,... ..........

T,.._, • .... l,...'Jllltz

lllid lnt Gilar:



w.1m;,.. . . . .

IEl~UT

M MASiUS 1 •

'1

&UL +

„,,.....u..

„,.,„

---*'---

Ob.r: Klfine~

. . . . .tr6f6alt ,,.,,,. S.: A/ljlltttidtf$ ~ ilt • . . . .~ ··• 1r'11t 1916,.._,,,.., 50 000 ml.

Gnlle...,

,., , ,„ '*'-Hllfll • .....

Kaf-Ut!bkntJdlt-l&b ~Shit.

+ St'

......,,,,.,,,Dom.

Gisela Karau ergangene Wirklichkeit erscheint den Menschen mit den Jahrzehnten unwirklich, selbst denen, die sie durchlebt haben. Dieser verwüstete Alexanderplatz - bin ich wirklich einmal dort langgelaufen, die Sohlen so löchrig wie das " Pflaster? Unglaublich. Häuser, in die man von oben hineinsehen konnte wie in abgedeckte Töpfe. Mauerfiligran, die alten Strukturen erkennbar, doch nicht mehr benutzbar. Berlin, meine Liebe, was haben sie a mit dir gemacht? Wer? Warum ? Ich war ein kleines Mädchen, als mich diese Fragen bestürmten. Wessen Bomben es waren, das wußte ich wohl. Das hatten wir in der Schule gelernt, bevor die Schule ausfiel wegen Alarm. Was die Bomberschwärme aufgescheucht und herbeigezogen hatte wie ein Rachegewitter, das lernten wir nicht. Das kriegten wir später. Begreifen ging mit Zugreifen Hand in Hand. Die Trümmerfrauen mit den zum Turban geschlungenen Kopftüchern und den Schuhen ihrer nicht heimgekehrten Männer an den müden Füßen - sie ahnten nicht, daß sie in die Stadtgeschichte eingehen würden. Der Wind wehte über die kahlen Flächen, die Straßenbahn quietschte im Kreisverkehr am Alex, es zog, und niemanden zog es sonderlich zum alten Zentrum, in dessen dichtem Häusermeer einst Franz Biberkopf herumgeschwommen war, auf- und untertauchend, saufend und ersaufend. Weggeblasen das Döblinsche Milieu, in alle Winde zerstoben die Ringvereine Felsenfest und Immertreu. Wo es keinen Grund mehr gibt, ist auch kein Untergrund. Nur die Untergrundbahn blieb. Ein Platz mit seltsamer Biografie. Benannt nach dem Zaren Alexander, dessen Kosaken die Preußenstadt von den Franzosen befreien halfen, eineinhalb Jahrhunderte später wiederum befreit durch die Alexanders, Nikolais, Wladimirs, die der rote Stern an der Mütze als Zarenbezwinger auswies. Dialektik der Geschichte. Wissen, was war, an-

BERLIN IN DATEN

Noch vor der endgülti gen Kapitulation der faschistischen Wehr macht begannen Ende April/ Anfang Mai 1945 deutsche Kommunisten, Sozialdemokraten und bürgerliche Antifaschi sten - aus Konzentra tionslagem und Zucht häusem befreit, aus dem illegalen Widerstandskampf oder dem Exil kommend - erste demokratische Verwal tungsorgane zu bilden. Am 19. Mai 1945 nahm der demokratische Ber liner Magistrat unter Oberbürgermeister Arthur Werner die Arbeit auf Ihm gehörten u. a. d er Kommunist Karl Moron, d er Sozialde

BERLIN-

ders ist das Gewordene nicht zu begreifen und zu bewerten. Fragen, warum, und nicht gleich mit der Antwort zufrieden sein, so wird Selbstverständliches faßbar, Auferstehung aus einem überirdischen Begriff zur menschlichen Tat. Millionen mußten sich aufrichten, um das Gestürzte aufzurichten, in neuen Strukturen, doch nicht geschichtslos - Geschichte vollstreckend.

und kein Terror hatte ihren Mut brechen können; nun stellten sie sich an die Spitze des Neubeginns und übertrugen ihre auf Wissen gegründete Zuversicht allen, die aus bitterer Erfahrung zu lernen suchten. Uns Jungen von damals schien: Das Schlimmste haben wir hinter uns. Vorne kann's nur besser werden. Die Jungen von heute haben weniger hinter sich. Was aber liegt unter dem Schleier der Zukunft? Wieder jener Rauch, durch den wir geschritten ch habe mich durch die Zeiten geschrieben mit einem untilgbaren Op- sind, erstickend fast, doch noch zu retten 1 timismus. Heute frage ich mich Was bliebe beim nächsten Feuersturm manchmal, wo hatten wir den her? Es übrig? Die Frage zu stellen ist jedennanns war ja kein individueller, es war ein gesell- Recht, wenn nicht Pflicht. In ihr steckenzuschafilich geprägter Optimismus, der von bleiben wäre Selbstaufgabe. Wir bauen daden Kämpfern zu lernen war: Sie hatten ge- gegen an, schaffen vollendete Tatsachen, für warnt, als das faschistische Unheil noch ab- die zu streiten lohnt. Die Schönheit des Friezuwenden gewesen wäre; sie hatten den Wi- dens gegen die Häßlichkeit des Krieges. derstand gegen die Nazidiktatur organisiert, Es wurde der Stadt nicht an der Wiege ge-

81 I I 1u11t 1

• .........„.„.„„ ...,......,

11C1111•1a1t11t ••.•.„•., ••••h•lltl

„-

_..,.. ______ „ ....... „„„ ............. „„ ....... ,.... „_ .....„_ __....._

...... „-„ ..... - ... „....... „„_...,_ .......... „ .......,„ „ ......... „ ......... _„ ___ .......... ... ......... „„ ........ _ ....... __ .,. ........, .... - .............. „ ...........

___ „......, ___ ............ „„..... ...... „ ............ - -...

.--. . . . ..... _.,.._.„ -

......... „ ..... ...... ... - · - - - · · ·

-----· ··r.·-"'·---_ . . ____ __ .... .......... .„.„-...... -„„ .......................... . . . . . . .„„.-.... . . . --„ t

'I

---~-„„-.......... „.,..-.• ........ ...,..,..... . ..... _„„„_,„_ „....,.. ··---.............__„„_ -~ .„ ...... „ ... „..., ....,.. „____ ...... „„ '"' „..................... .....,......,. '-'..... ,__. .,.._ -~-,

ft11) . . . _ _

~„



Oktober 1939: Illegal in Bertin gedruckte Zeitung des antifaschistischen Widerstandes (o. 1.). 21. Mai 1945: Die erste Nummer der Berti-· ner Zeitung (o. r.). März 1946: Die 1. Reichskonferenz der KPD ehrt das Andenken Ernst

Thilmanns und berät über den demokratischen Neuaufbau. Erich Honecker (links) wird ins ZK gewählt.

NBI 1987

SEITE 30





MEINE LIEBE sungcn, daß sie einmal Stadt des Friedens heißen würde. Von hier waren die Angreifer aufgebrochen, sie hatte als erste deren Marschtritte gespürt, die Brandfackeln gesehen, sie war das Letzte, was brannte und barst und sich wehrte gegen den Ansturm der Gerechten. Als sie vier Jahre später wieder von Fackeln erhellt wurde, waren es die eines neuen Staates, der ersten Republik der deutschen Arbeiterklasse, die ein schweres Erbe antrat, materiell und ideell. Dieser Klasse ist noch nie etwas in den Schoß gefallen. Um alles hat sie hart kämpfen müssen, am härtesten um die Macht.



nfang der fünfziger Jahre wurde uns die Frage gestellt: Wäre es schön? Und die Antwort folgte auf dem fuße : Es wäre schön. Eine kühne Vision entwarf die Partei Piccks, Grotewohls

und Ulbrichts vor den Augen des Volkes : scn. Sie hatte uns in diese Steinzeit zurückLeben ohne Trümmer. Die Hauptstadt frei geschleudert. von Ruinen. Es war dunkel, als das Nationale Aufbau-l l lintcnn Brandenburger Tor entstand werk begann. Ich erinnere mich, wie wir das Hansa-Viertel neu. Das Kapital unter Bogenlampen und Schcinwcrfcrn behatte sich prächtig erholt, es gab sich klommen die Steingebirge erklommen, die modern. Massen fuhren hin, sich das noch immer, trotz jahrelanger Angriffe mit anzusehen: konzentriertes Experiment, Spitzhacke und Schaufcl, unbesiegbar schie- glatte Fassaden, krcuzlose Fenster, keine ncn. Wenn wir unsere freiwillige Feier- Schnörkel. Kühner Schwung des Kongrcßabcndschicht beendet hatten und einen hallcndachcs, beliebtes Sujet des WcrbefcrnBlick zurückwarfcn auf die amorphen Schat- schcns. Leider war der Beton gepfuscht, tcnrisse, sah es aus, als hätte niemand sich dem exemplarischen Bauwerk war kein landa Blasen geholt. An künftige Schönheit ges Dasein beschieden - einer der vielen Skandachten wir nicht. Um Räumung ging es, um dalc, die zu dieser Art »Baufreiheit« gehören die Freilegung verschwundener Straßen- wie Bodenspekulation und Mietwucher. fluchten, um Stapel sauber abgeputzter Bei uns baute Hcnsclmann die große Alice, Steine und Futter für den Ziegelbrecher, der verspottet von Besserwissern. ZuckcrbäckcrSplitt ausspie, erstes Baumaterial. Armselige stil. Der Quadratmeter Wohnung kostete Technik. Die des Krieges war perfckt gewc- neunzig Pfcnnig. Heute hat die Allee ihre Pa• tina, sie unterscheidet sich von Marzahn, vom Thälmannpark und auch vom Nikolaivicrtel. Vieles unterscheidet sich jetzt voneinander, vom großen Unterschied gesellschaftlicher Besitzverhältnisse diesseits und jenseits der Quadriga ganz zu schweigen. ie goldene Göttin der Tugend ist auf den Deutschen Dom zurückgekehrt. Dome waren sie nie, die flankierenden Tunnbauten am Schauspielhaus. Aber selbst das Lexikon nennt sie so, der Begriff ist eingebürgert. Aus dem Gendarmcnmarkt wurde der Platz der Akademie. Der Name ist den Wissenschaften geschuldet, Voraussetzung und Konsequenz neuer Blüte. Sie geht einher mit der geschichtlichen Tatsache, daß der Sozialismus selbst von einer Utopie zur Wissenschaft geworden ist. Als die Alexandrows die Ruine des Schauspielhauses mit Gesängen vom Hcideröslein und dem schönsten Wiesengrunde belebten, wuchs Gras zwischen Pflastersteinen und ein Birkenwald in Dachrinnen. Wenn ich

/j]

Fortsetzung auf S eite 34

Friedrich Ebert, Oberbürgermeister Berfins von 1948 bis 1967, beim Enttrümmern in der Stralauer Allee, Oktober 1950. Darüber: Der erste Oberbürgermeister Berfins nach dem Kriege, der parteilose Antifaschist NBI 1987

Arthur Werner, auf Otto Grotewohl dem Titel des er- und seine Frau josten Heftes der hanna. An der EntNBI, Oktober 1945. trümmerung BerOben: Beginn des lins beteiligten nationalen Aufbau- sich damals werkes (NAW) im 200 000 Werktijanu.1952. Unter tige aus aJlen Teiden 50 000 Berli- len der DDR. ner Aufbauhelfern in der heutigen Kali-Marx-Allee Ministerprisident

mokrat Josef Orlopp, der Chirurg Ferdinand Sauerbruch an. Von Berlin aw riefdie KPD am JJ . Juni 1945 zu einem breiten Bündnis aller antifaschistischen Kräfte, zum .Aufbau eines neuen demokratischen und f riedliebenden Deutschland auf Im Berliner .Admiralspalast, dem heutigen Metropol-711eater, vereinigten sich am 21 . April 1946 KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl wurden zu Vorsitzenden gewählt. Damit entstand die entschei

dende Kraft, um die antifaschistisch-demokratische Umwälzung zu Ende, den Sozialismw aufdeutschem Boden zum Siege zufüh-

-en. Am 7. Oklober 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet und Wilhelm Pieck zu ihrem Präsidenten gewählt. Berlin wurde die Hauptstadt eines Staates, der erstmals in der deutschen Geschichte die Interessen und den Willen der Werktätigen verkörpert, der nicht Krieg, sondern Frieden und Völkerfreundschaft zu seinem Programm erklärt. SEITE 31

V•Wln«lltdts: . . . Pid, •

„• .

..... l'rllidMt.

--bliitn-

OOlt ...

Aullmtda AleMM·f Htl• 11. ~ 1941 IMI

.„. .

„„Jf„a...nt.

FDJ-Eillatz,.,.

1141•-anlliT•li• p. ... SEITE 32



""Plltz. AUIJl„,,.,_ lllil „ SIMI...,., Frilttä Stlll*I. & . . . . 1.0halllr " " III ,,,,,, St:biJtll»it

. . . .Alt M DllfjM fritctic* //. ... ClttidiM

DMif/ . . . „...... u.Jtn:,,..,,,_ „.,,.. (Mflr

ffltd(reddJJ.

SEITE 33

...



Gisela Karau Fortsetzung von Seite 31

den Glanz und das Gold der neuerstandenen Bauten sehe, fallen mir noch immer die alten Bilder ein. Sie gehörten lange Zeit zu meinem Arbeitsweg durch die Friedrichstadt; ich sah das Schweizerhaus an der Ecke Unter den Linden, unversehrt, als hätten die Bomben einen respektvollen Bogen darum gemacht, und dachte an Schweizer Käse und an Schokolade, deren Geschmack ich vergessen hatte. Wir hatten Hunger, wir mußten die Suppe auslöffeln, die wir uns hatten einbrocken lassen. Die verbrannte Erde, die im Namen Deutschlands anderen Völkern zugemutet worden war, lag vor unserer eigenen Haustür. Auch mein Haus war verbrannt. Ich sehnte mich nach bewohnbaren Straßen, die nicht irgendwo im Abbruch endeten. Wie häßlich war das Stück.werk, das uns geblieben war. Alles schien geeignet, die Menschen apathisch zu stimmen, die leeren Mägen, die leeren Schränke, die toten Augen der Ruinen. Die Bilder von damals zeigten aber auch etwas anderes. Frauen setzten kecke Hüte auf und eilten mit lebensgierigen, neugierigen Blicken durch die Stadt. Da waren Signale erklungen, Zeichen gesetzt, es gab Arbeit, es gab Ziele. Bewährung war möglich und nötig.



llmählich sickerten auch die Männer zurück. Ihre Anzüge hatten helle Stellen, die vorher bedeckt waren mit Rangabzeichen der Großdeutschen Wehrmacht. Mein Biologielehrer stand Tag für Tag in so einem Anzug vor mir. Mich beschäftigte beim Blick auf seine immer fadenscheiniger werdenden Hosen, wo er mit denen wohl gewesen war, als sie noch neu und rauh seine K.riegerbeine bekleideten. Ei sprach im schönsten Berlinisch von Mitsehurins sibirischem Beerenappelboom und ließ kaum Zweifel daran, daß er keine Ahnung und noch weniger Lust hatte, sich mit

BERLIN IN DATEN

Am Ende des zweiten Weltkrieges waren 48 Prozent aller Gebäude total zerstört, 185 000 Wohnungen vernichtet, 400 000 schwer beschädigt. Nur 37 000 waren noch be wohnbar. Von 1945 bis 1949 wurden fünf Millionen Kubikmeter Trümmer beseitigt. 1946 wurde der erste N~baublock ~ogen.

1952 begann der planm4JJige N~aujbau in der h~tigen Kar/Marx-Allee. Seit dem VI11. Partei tagderSED 1971 zo gen über 8()() 000 Ber/i ner - mehr als die Hälfte der Einwohner in n~e oder modemi sierte Wohnungen.

solchen Themen zu beschäftigen. Das aber. mußte er, das mußten wir, das Muß gehörte zum schweren Anfang. Es war ein inneres Gesetz unseres Handelns, da wir neue Verhältnisse anstrebten. Die große Chance mußte genutzt werden, mit den Wurzeln auszureißen, was ganz Europa und zuletzt uns selbst ins Elend gestürzt hatte. Nebenan blockten sie sich ab gegen den Fortschritt. Ausgezogen aus dem Roten Rathaus, konservierten sie unter dem Schutzschirm der Besatzungsmacht die alten Verhältnisse ~nd versuchten sich als Frontstädter des kalten Krieges. Ein Reaktionär erfand das zynische Wort von Westberlin als der »billigsten Atombombe«. Ein Spötter nannte es später den »teuersten Blindgänger«. Aggressive Bosheit und Konfrontation brachten nichts ein, am wenigsten den Westberlinern. Vernunft ist gefragt.

BERLINas? Wer? Warum? Die Fragen der Kindheit haben mich nie mehr losgelassen. Die Antworten sind herausgewachsen aus dem Gewirr von Schutt und Irrtümern, sie wurden herausgearbeitet. Nur solche Antworten zählen. Theorien, die nicht zur materiellen Gewalt werden, da sie an den Massen vorbeige: dacht sind, können noch so glanzvoll lcJingen, sie verändern die Welt nicht. Eine der großen Fragen unseres Zeitalters ist die Wohnungsfrage. Wie anders sollte sie zu lösen sein als durch massenhaften Bau von Wohnungen, die jeder sich leisten kann? Als Anfang der siebziger Jahre die SED auf ihrem VIII. Parteitag Kurs darauf nahm, mit geballter Kraft Wohnungssorgen des Landes und seiner am schlimmsten mitgenommenen Hauptstadt aus der Welt zu schaffen, schien manchem die neue, höhere Stufe von »Wäre

Dem weiteren Ausbau Berlins gelten die besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung der Pstei- und Staatsführung: Bauminister Wolfgang Junker (2. v. 1.) und Chefarchitekt Dr. Roland Korn (rechts vom) ertiutem die P.ekonstruktion der Altstadt Köpenick. Weltbekannte Magistrale entsteht neu: die Friedric:hstra8e, wo 3000 Wohnungen, 150 Geschifte, ein Einkaufszentrum und Kaufhof sowie Gaststitten mit über 6000 Plitzen errichtet werden. Von links nach rechts: Wohnhäuser gegen- ~Bi über dem Friedrichstadtpalast, Eckhaus Kronenstra8e (Arbeitsmodell), Wintergarten am SBahnhof mit Uraufführungskino, Spreeterrassen an der Weidendammer Brücke.

SEITE 34

NBI 1987





MEINE LIEBE es schön? Es wäre schön!« als Wunsch- Erscheinung. In Industriebetriebe kann traum wie einst das trümmcrfrcic Berlin. nicht jeder schauen. Was aus den ehemaliNun hat das Programm schon längst Gc- gen Konzernwerken geworden ist. liest man nicht an den alten Werkmauern ab, auch stal~ ist einbetoniert in die Zeit. verbunden mit dem Namen seines Initiators, Erich nicht an den neuen. Aber was VolkseigenHonecker. Die Erwartungen sind nicht klei- tum an den Produktionsmitteln hervorbringt ner geworden, aber die Gewißheit größer für fürs Volk, das zeigen die Gesichter unserer jeden: Was die Partei verspricht. hält sie. Städte mit Berlin an der Spitze. wie es sich Plakate mit so einer Losung wären wir- für die Landeshauptstadt gehört. Darum kungslos. wären sie nicht umgeben von wirkt das ganze Land mit seiner Jugendkraft neuen und erneuerten Häusern. daran mit. Gebaut wird überall in der Welt. auch und vor allem da, wo es das große Geschäft ist D Jcrlin, meine Liebe - lange Zeit war es • eine schmerzhafte Liebe. die ich volbis hin zum großen Betrug. Bei uns ist es • lcr Trotz empfand. Meine Heimatkcin Gcschäf~ sondern ein Zuschußuntcrstadt sollte mir niemand verleiden. nehmen. Wer einen Beleg dafür brauch~ was Herrschaft der Arbeiterklasse auszeich- Hier wurde ich geboren als Nachkomme der nct vor Herrschaft der Profitmachcr, der dritten Generation, die an der Spree zu kann sich am Bauen orientieren. Hier tritt Hause war, frühere Vorfahren lebten in das soziale Wesen des Staates öffcntlich in Schlesien. in Sachsen. arri Rhein. wir stam-

mcn alle mehr oder weniger von Rucksackbcrlincrn ab. Mischvolk. lebendig und frech. Die Geschichte Berlins ist eine Geschichte der Vermischung. So entstehen Großstädte. Unser Berlin ist eine Liebe wert. Verjüngt ist es und gereift. Der alte König reitet wieder Unter den Linden, das Gesicht nach Osten gewand~ eine imposante Silhouette gegen den Abendhimmel hinterm Brandenburger Tor. Nicht weit davon ein neues Denkmal für die Väter unserer Weltanschauung. Welten liegen zwischen den Statuen. Marx und Engels wären die letzten. die etwas dagegen hätten, im Ensemble der Denkmale Berlins gleich neben Friedrich genannt zu werden. Sie sind schließlich die Begründer des dialektischen und historischen Materialismus. Jeder Geist muß aus seiner Zeit heraus beurteilt werden. Von niemandem ist auch die Bourgeoisie tiefer verstanden worden als von den beiden, die deren Totengräber entdeckten. Ihre Standbilder sind heiß diskutiert worden. von Fachleuten und von Laien. Als der Bildhauer Rauch F Zwo in Bronze goß. soll es auch Debatten gegeben haben. Doch wen im Volk ging es an. ob der Herr richtig getroffen war? Er saß hoch oben auf seinem Roß. niemand konnte ihm Auge in Auge gegenüberstehen. Zwischen den Knien von Marx fotografieren die Leute ihre Kinder. die Hosenbeine sind schon ganz abgcgriffcn. nicht weniger als die Nixenbuscn am Neptunbrunncn. Begreifen geht mit Zugreifcn Hand in Hand. auch beim Umgang mit Kunst und Geschichte. Diese Sammlung von Fingerabdrücken an den Metallstelen des Marx-Engels-Forums. Wahrscheinlich sind auch Nasenabdrücke darunter. die Betrachter gehen so dicht an die Fotos heran. als wollten sie daran schnuppern. Mit allen Sinnen wird wahrgenommen. aufgenommen und angenommen. was unser Berlin heute ist. gene warme, trockene 64 Prount aller Ntuund sichere Wohnung bauwohnungen erhielverfügen kann. ten Arbeiterfamilien, jede fünfte bezog ein Bis 1990 kommen 2092 junges Ehepaar. Der Unterrichtsträume, Mietpreis beträgt unver- 32 U8 Kindergartenund 12 640 Kinderkripändert 0,80 bis 1,20 penplätze sowie 5600 Marle pro m1. Plätze in FeierabendMit Berlin-Marzahn , Berlin-Hohenschönhau- und Pflegeheimen sen und Berlin-Hellers- hinzu. dorf entstanden drei Weitere Erholungsvöllig ntue Stadtbe möglichluitenfür die zirlu, die ihrer Einwoh- Berliner werden u. a . nerzahl nach Großstäd- mit der Anlage von 20 000 KleinRärten bis ten vergleichbar sind. Im Fünjjahrplanzeit 1990 geschaffen. Im Stadtbezirk Hohenraum 1986 bis 1990 schönhausen entsteht werden durch Ntubau ein Naherholungspark, oder Modernisierung 1987 lädt erstmals die 163 000 Wohnungen geschaffen - 30 250 da- Berliner Gartenschau in von im Jahre 1987- ,so Marzahn zum Besuch. daß 1990jede Berliner Familie über eine ei SEITE 35

LillG:S...-•r,..

....w-••• „

-„ .,,..,,_ SujJrr " r

III

.$"'-*.....

°""1-' • EtM TWI-

-

--„. . . . At6ll#tflllnt . . . .

"'Veit.,_. • llPO

..,,,.,, t"'1dl. F-"i*' 1133111 . . ..

....„.*"'_ .„„„ .... lldls: Sät ... ,,,,:

.................

""*bilim-AI,_, sittfll llld111 •

„,.,....,.,.

.. ...,„..........,., ,. &M-~­

............„ ,., • v.t-.,.t1iht -

Lrlt..,

~.

"""'. StMlt.

Fofol: w. Heilig (1), G. , . . ,(6), E. KJiipptJI (1), K.-H. "-"- (1J, G. ~(,),

/. Mol (1J, G. Mltm (1), T1t. s.dbttg (1), w.Sd#lla (1J,

btrtnlbild (2), llM.lbtltnJa Plttlilldlir (1), IV-Ardlir (7), Vlpwtte:

HMl-/odiln lltJ/nndt

BERLIN IN DATEN

Der am 8. Juni 1986 gewählten Stadtverordnetenversamm/ung gehören 225 Abgeordnete an, darunter 110 Arbeiter, 76 Frauen und 27 Jugendliche unter 25 Jahren. 56 Abgeordnete wurden von der SED nominiert.je 22 von der CDU, der LDPD, der NDPD und der DBD. Die übrigen 81 wurden von Massenorganisationen vor-

geschlagen: dem FDGB, der FDJ, dem DFD, dem Kulturbund und der VdgB. Den JJ Stadtbezirksversammlungen gehören 2135 gewählte Volksvertreter an. In 167 ständigen Kommissionen der örtlichen Staatsmacht sind mehr als 3300 Bürger tätig. Mehr als 15 ()()() Berliner nehmen in den 610 Wohnbezirks-

ren über 42 800 Mütter und Väausschüssen der Nationalen Front an der Leitung gesellter an. schaftlicher Angelegenheiten im In der Bürgerinitiative »Mach Wohngebiet teil. mit« haben sich die Berliner für 5320 Bürger sind als Schöffen 1987 u. a. vorgenommen, 6()()() und 18 ()()()als Mitglieder der Wohnungen älterer Bürger über 1800 gewählten Konfliktneuen Glanz zu geben, kommissionen an der sozialisti- 1400 Wohnungen zu modernischen Rechtsprechung beteiligt. sieren, 450 ()()() Quadratmeter Den gewählten Elternvertretun- Grünflächen anzulegen und gen der Berliner Schulen gehö- 50 ()()() Bäume zu pflanzen. NBI 1987

SEITE 36





Für die Augen nicht vergessen machen Er schuf die Denkmale für die antifaschistischen Kämpfer in Buchenwald, Mauthausen, Ravensbrück, Berlin; Fritz Cremers künstlerisches Werk ist Mahnung und Bekenntnis zum Leben. In der Portrltbüste •Kopf eines strrbenden Soldaten« ist Fritz Clemen 5"/bstbildnis

•Ich bin nun mal durch Etfahnmg und E1*enntnis auch ein betont politisch Denkender. So fühle ich mich nicht nur berechtigt, sondern auch rerpflichtet, zu gesellschaftlichen Ereignissen, die ich direkt oder indirekt erlebe, meine Ansicht zu iu/Jern. Dabei geht es mir hauptsächlich um die geistige Herausforderung des Betrach-

zu triennt!!ll. R«hts: Dieses Blatt, darstellend Mutter Coppi WJt' dem Fries des PergamonaltatS, stanmt aus der Grafikfolge mir Mutter Coppi und die Anderen, Allel•.

Fotos: Ludwig /laJdr (1), An:hw

ten.• as erste Mal durchJitt dieser Mann in Berlin den Tod. Der beute 80jährige weltbekannte Bildhauer Fritz Cremer hatte damals, 1937, in der Porträtbüste »Kopf eines sterbenden Soldaten« sein Antlitz abgebildet. »Ein Mensch«, wie der Schriftsteller Günther Rücker Jahrzehnte später tief berührt sagt, »beschreibt sich im Augenblick des Todes, eines Todes, den er erwartet. Wenn er ihn nicht treffen sollte, wäre es ein Glück, aber gegen jede Vernunft, denn es war eine Zeit des Todes für seinesgleichen.« Cremers bildgewordene Mahnung war von den Ereignissen jener Zeit des Faschismus geprägt. Der junge Fritz Cremer, Ende der sogenannten goldenen zwanziger Jahre nach Berlin gekommen, beobachtete wachen Auges seine Zeit. die immer mehr aus den Fugen geriet. Erlebte den braunen Aufmarsch, die »Nächte der langen Messer«, faschistischen Terror und nackte Gewalt. Und diese Ereignisse ließen ihn leiden und verzweifeln, widerstehen und handeln. Sein Mittel war die Kunst. und für den, der sehen wollte, war es Kunst im Widerstand. Als er 1936 das Relief »Trauernde Frauen« vollendete, wurden staatspolizeiliche Untersuchungen vorgenommen. Dennoch erhielt er für dieses Werk, damals in Freundeskreisen unter dem Titel »Gestapo« bekannt. den Preußischen Staatspreis. Zweifelsohne war dies auch eine oppositionelle Entscheidung einiger Akademiemitglieder gegen die völkisch ausgerichtete Kulturpolitik der Nazis. Doch jene Auszeichnung trübte nicht Fritz Cremers Blick auf die brutale Realität, der wenige Jahre später seine Freunde und Genossen, unter ihnen Walter Husemann und Oda Schottmüller, Elisabeth und Kurt Schumacher, zum Opfer fielen. Die Erfahrungen dieser Zeit formten in ihm jenes künstlerische Programm, dem sich Cremer zeitlebens verpflichtet fühlt. Gegen das Unrecht anzugehen, wo auch immer es geschieht, gegen die Feinde der Menschlichkeit sieb zu erheben.

D

Fritz Crcmers künstlerisches und politisches dieser Siebt beurteilt er die Haltung der Künstler Credo ist ablesbar an Skulpturen und eindringli- und bekennt sich gleichsam, wie in vielen seiner chen Denkmalen : den Geschlagenen und Kämp- sinnenvollcn Plastiken und Grafiken erkennbar, fenden, den Aufsteigenden und Stürzenden, den zum Leben, zur Freude, Farbe, Liebe, Schönheit. Siegern und den Opfern. Viele kennen sein Bu- Gesellschaftliches Eingreifen und LcbenwolJen chenwald-Denkmal oder das Mauthausen-Mahn· gehören für ihn zusammen. mal »0 Deutschland, bleiche Mutter«, den »Ga- Wer Fritz Crcmer kennt und seine Kunst, weiß lilei« und den »Aufsteigenden«, die Ravensbrük- von seiner unmißverständlichen Aufforderung, kcr Müttcrgruppc oder die vor wenigen Jahren dialektisch zu denken. Für manche mag seine forgeschaffene Grafikfolge »Für Mutter Coppi und dernde Art ungewöhnlich, unbequem sein. Konrad Wolf bezeichnete ihn als einen Arbeiter in die Anderen, Alle!« Als die NBI vor drei Jahren in ihrer Serie »Erin- der Kunst. der nicht begafft zu werden wünscht. nerung für morgen« erstmals diese Blätter der Crcmcr selbst zitiert oft Freund Brecht. demnach Öffentlichkeit vorstellte, sagte uns Fritz Cremcr: man nicht »glotzen(<, sondern »sehen« müsse. »Ich wollte das, was ein Teil meiner unmittelba- Sehen, um zu erkennen, immer wieder, unermüdren Genossen mit ihrer tiefsten und wahrhaftigen lich, mit allem Risiko, sich nicht schonend. Überzeugung zu Ende taten, nicht nur in ge- Crcmers jüngstes Werk, das vor dem Berliner schriebenen Worten, sondern auch für die Augen Ensemble stehen wird, belegt des nicht vergessen machen.« Es sind Bilder mensch- Künstlers Ansicht. Er nennt es ein »Mal zum lichen Leids und unfaßbarcr Brutalität, klagend Denken«: Bertolt Brecht, fast zu ebener Erde auf und aufschreiend, mahnend und protestierend. einer Bank sitzend. Das Steinrondell, eine DrehDie Schicksale seiner Freunde, Mitglieder der bühne assoziierend, ist mit Cremcrschen ZeichWiderstandsgruppe Schulze-Boysen-Harnack, nungen zu Brcchts dialclctiscbcr Theaterarbeit die in Plötzcnsec gemordet wurden, sind er- umsäumt. Dahinter drei Säulen, die Grundeleschreckend, geben aber auch Zeugnis von der mente der Dialektik - These, Antithese, Synthese Größe dieser Menschen, von ihrem Kampf gegen - symbolisierend. Auf den Säulen sind Zeugnisse Terror und Unrecht. Sie hatten ihr Leben einge- dialektischen Denkens eingraviert. von der Ansetzt für eine menschliche Zukunft, die sie wie tike bis zur Gegenwart. Brecht lädt mit Cremer viele andere nicht mehr erleben konnten. Diesen den Besucher ein. Nehmt Platz! Vielleicht auch Helden fühlt sich der Künstler und Kommunist zum Denken. Fritz Cremer immer wieder verpflichtet; er ver- Bei dieser Arbeit wird Crcmcr auch an folgenden folgt ihre Lebensschicksale und wird von deren Gedanken Brecbts erinnert worden sein: »Die Lebensschicksalen verfolgt. Und so entstand eine Völker, die sich eine sozialistische Wirtschaft erKunst aus Engagement und Erkenntnis, die nicht kämpft haben, haben eine wunderbare Position museal, sondern gegenwärtig ist. Die Vergangen- bezogen, was den Frieden betrifft. Die Impulse heit ist aktuell, sie fordert den Künstler immer der Menschen werden friedlich. Der Kampf aller wieder heraus. In fünf Punkten bat er für sich gegen alle verwandelt sich in den Kampf aller für selbst und zur Beurteilung seiner Zeitgenossen alle. Wer der Gesellschaft nützt, nützt sich selbst. die Feinde der Menschlichkeit, »die keine Natur- Wer sich selbst nützt, nützt der Gesellschaft. Gut gesetze sind(<, so beschrieben : Ausbeutung und haben es die Nützlichen, nicht mehr die SchädliKrieg, Armut und Rassenverfolgung, direkter chen.(( oder indirekter Mißbrauch von Religion. Aus Joachim Maaß NBI 1987

SEITE 38





NBI 1987

SEITE 39

Gäste lassen E

nde August 1983 besuchte ich Berlin. Es war nur ein kurzer Aufenthalt, aber der herzliche Empfang und die mir von den Berliner Bürgern erwiesene liebenswürdige Gastfreundschaft sind mir noch gut in Erinnerung. Der Zweck meines Besuches war, dem Vorsitzenden des Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik, Herrn Erich Honecker, für seine Anwesenheit bei der Enthüllung des Denkmals »Statue der Völkerfreundschaft« im Mai 1981 zu danken und der Eröffnungszeremonie der Ausstellung »Hiroshima-Nagasaki Atombombe« in Magdeburg beizuwohnen. In der DDR traf ich mit dem Vorsitzenden Honecker, den Bürgermeistern von Berlin und Magdeburg und zahlreichen anderen Menschen zu Gesprächen zusammen. Ich war von der heißen Friedenssehnsucht, die die Bürger Berlins erfaßt hat, tief beeindruckt; das sind erfahrene Kriegsnöte. Die Bürger von Nagasaki haben unnachgiebig zur Abschaffung der Kernwaffen und zur Schaffung echten Friedens aufgerufen, und während meines Berlin-Besuches erkannte ich, daß unsere beiden Städte die gleichen Sehnsüchte teilen. Bei der Stadtbesichtigung beeindruckte mich die vorzügliche Restau-

nem See mit dem Berliner Bürgermeister und die Schönheit und Größe der Landschaft, die uns umgab. Zum 750. Jahrestag der Gründung der schönen Stadt Berlin möchte ich meine herzliche Gratulation aussprechen und auch meine besten Wünsche, daß Ihre Stadt weiterhin als ein internationales Friedenszentrum gedeihen möge. Hitoschi Motoschima Bürgenneister von Nagasaki

M

eine erste Begegnung mit Berlin liegt fast ein halbes Jahrhundert zurück und ist mir in wenig angenehmer Erinnerung. Nach Absolvierung der Mittelschule schickte man uns »Maturanten« zu einem Besuch nach Ber- Im Herbst 1971 erfolgte die Grünlin. Es war im Frühjahr 1939, und dung der Freundschaftsgesellschaft der Zweck der Reise war wohl, den Österreich - DDR. Von da an hatte »ins Reich heimgekehrten« Österrei- ich als Präsident dieser Organisation chern den gebührenden Respekt vor durchschnittlich zweimaJ im Jahr der »Reichshauptstadt« beizubrin- Gelegenheit. Berlin einen Besuch abgen. zustatten. Dabei kam mir der Vorteil Zwischen meinem ersten Besuch und zugute, den gelegentliche Besucher meinem nächsten liegen 31 Jahre. im Vergleich mit ständig AnwesenWelche Jahre! Im Sommer 1970 war den haben: ich konnte die schrittich in Berlin zu einem Vortrag einge- weise gemachten Fortschritte leichter laden - es war gleichzeitig mein er- erkennen und beurteilen. Aus dieser ster Besuch in der DDR. Abgesehen »bildrafferartigen« Betrachtungsvon der ehrenden Einladung war ich weise konnte das Erreichte deutli- ich muß es gestehen - mit ge- cher und eindrucksvoller gesehen mischten Gefühlen gekommen. Ob- werden. Das bezieht sich nicht algleich trotz allen >>Informationsnot- lein, ja vielleicht nicht einmal in erstandes« auch in Österreich bekannt ster Linie auf den Wiederaufbau geworden war, welch' neuer deut- durch Schaffung neuen Wohnraums, scher Staat mit der Gründung der obgleich hier die Erfolge besonders DDR entstanden war, fiel es doch imponierend sind; vielmehr fällt auf, nicht leicht, sich ganz von Ressenti- wie sehr die Hauptstadt der DDR ments und Vorurteilen freizuma- ein von pulsierendem Leben erfüllter chen, die ihre Wurzel in leidvoll er- Ort geworden ist; das Angebot an lebter Geschichte hatten; und Berlin künstlerischen und kulturellen Ereigwar nun einmal für viele von uns das nissen kann sieb mit jeder Metropole Symbol erst des preußisch-deutschen Europas messen. Militarismus und dann des Hitlerfa- Mit einem Wort: ich habe in diesen schismus gewesen. Jahren Berlin lieben gelernt! Jetzt, Aber zugleich war ich mit einer gro- da ich es aufschreibe, staune ich ßen Neugierde gekommen : Sollten selbst ein wenig darüber, wenn ich hier Anzeichen zu finden sein, daß den Ausgangspunkt bedenke. es gelungen war, die Vergangenheit zu überwinden, so mußte das für den Hofrat Prof Dr. Friedrich Epstein ganzen neuen Staat gelten. Soll ich heute, nach mehr als einundeinhalb Jahrzehnten, meinen damalias erste Mal kam ich nach rierung der Stadt und die große gen Eindruck zusammenfassen, so Berlin kurz nach dem Energie der Bürger der Deutschen läßt er sich am besten mit den WorKriege. Welch ein trostloser Demokratischen Republik. Ich be-· ten : Sauberkeit, Kargheit, Strenge Eindruck! Überall nur Ruinen, ein wunderte auch die Anstrengungen, wiedergeben. Unübersehbar - selbst- Trümmerhaufen. Damals hätte ich die gemacht wurden, um die traditio- verständlich! - die Folgen der nicht geglaubt, daß diese Stadt bald nelle Kunst und Kultur Berlins zu er- Kriegszerstörungen; unübersehbar meine zweite Heimat werden, daß halten und späteren Generationen aber gleichermaßen das systemati- ich sie lieb gewinnen würde. weiterzugeben. Ein unvergeßliches sche, planmäßige Bemühen des Wie- 1955 erhielt ich überraschend ein EnErlebnis war eine Bootsfahrt auf ei- deraufbaus. gagement ans Berliner Ensemble. Ich

Wien

erinnere mich noch genau: Wir saßen im kleinen Garten des Theaters am Schiffbauerdamm, Bertolt Brecht, Helene Weigel und andere Schauspieler. Es war unser erstes Zusammentreffen. Sie kannten mich aber aJle aus dem Film »Salz der Erde«, den ich in den USA gedreht hatte. Nach einer kurzen Unterhaltung, in der Brecht sich nach meinen zukünftigen Arbeitsplänen erkundigte, sagte er: »Warum bleiben Sie nicht hier, um mit uns zu arbeiten? Wir sind gerade dabei, die >Ziehtochter< von Ostrowsk:i auf die Bühne zu bringen, und haben noch keine Schauspielerin für die Titelrolle.« So begann der schönste und reichste Abschnitt meines Lebens. In Berlin waren damals zwar die Schäden des Krieges noch überaJI gegenwärtig. Aber man spürte: Die Bewohner sind dabei, sich unbeirrt und zielstrebig eine neue Welt aufzubauen. Die Zusammenarbeit mit Brecht war für mich ein unvergeßliches Erlebnis, seine Ratschläge erwiesen sich als unschätzbare Hilfe. Leider war diese Zeit viel zu kurz. 1957 kehrte ich nach Mexiko zurück. 1985 war ich wieder in Ihrem Land, besuchte neben Berlin auch Dresden und Karl-Marx-Stadt. Ich kannte diese Städte aus der Zeit, als ich mit dem Film »SaJz der Erde« durch die DDR reiste. DamaJs erwachten sie gerade aus den Trümmern. Und jetzt! Was hatten die Bewohner dieses Landes daraus gemacht! Mo-

Nagasaki

D

Mexiko-Stadt NBI 1987

SEITE 40





grüßen dcrnc Städte - Städte der Kultur, der Kunst und der Wissenschaften. Und die Menschen! Ich fand überall Kontakt, wurde mit Herzlichkeit und Respekt empfangen, auch von ganz jungen Menschen, die mich vielleicht nur vom Hören kannten. Manche älteren Leute kamen zu mir mit Fotos und Programmen, die ich für sie vor über 30 Jahren signiert hatte. Die Begegnung mit Freunden und ehemaligen Kollegen des Berliner Ensembles war so, als ob wir uns nie getrennt hätten. Ich verließ die Deutsche Demokratische Republik voll von unvergeßlichen Eindrücken von Menschen, die gut und sicher leben. Von einem Land, das für den Frieden und den Wohlstand seiner Bewohner kämpft. Ich bin sehr dankbar, daß ich die Gelegenheit hatte, das zu erleben.

Briefe an NBI: Berlin-Besucher erinnern sich

Seen und sehne mich nach einer dieser heißen Sommernachmittagsfahrten bei einem ständig gefüllten Glas Bier. Auch entzückte mich das Viertel um die Nikolaikirchc und der

Rosaura Revueltas, Schauspielerin

M

eine Liebe zu Berlin begann, als ich »Goodbyc to Berlin« von Christophcr lshcrwood las, den vergnüglichen doch gefühlvollen Bericht über die Erfahrungen, die dort ein junger Engländer des gehobenen Bürgertums Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre machte. (Später mit Welterfolg unter dem Titel »Cabaret« verfilmt. d. Red.) Ich stellte mir vor: gemütliche Gaststätten - Kneipen - warme Würstchen - leidenschaftliche Gespräche - sehr linksgerichtete politische Ansichten - groteske Karikaturen und verrückte Individualisten. Meine erste persönliche Begegnung hatte ich 1964 mit Berlin, wohin ich von Thcatcrschaffcndcn eingeladen wurde. Ich war damals Vorstandsmitglied des Nationaltheaters von Großbritannien und brachte Plakate und Programme von unseren für Ihre Schauspieler. Unser größter Schauspieler, Sir Laurencc Olivicr, gab mir eine Botschaft für Brcchts Witwe Helene Wcigcl. Sie wiederum lud mich ein, einige der großen Schauspieler der DDR bei Proben zu beobachten. Bei weiteren Besuchen war es nicht nur das Theater, das mir gefiel, wobei ich sagen muß, daß die Komische Oper eine Einrichtung ist, die ich gerne in London sehen würde. Das Pcrgamonmuscum ist bestimmt eines der großartigsten Museen in der Welt, und immer wieder hat es mich dort hingezogen. Richtig neidisch bin ich auf die großen Berliner

NBI 1987

Platz zwischen dem Deutschen und dem Französischen Dom. Welcher Eindruck, die Berliner in den S-, U- und Straßenbahnen, in den Gaststätten und in den Sportstadien zu beobachten oder bei Zusammenkünften mit Wirtschaftsfachleuten, Politikern und Wissenschaftlern. Es ist unhöflich, auf das Alter einer Dame zu verweisen. Aber nun, da sie bald 750 ist, ist sie, glaube ich, froh, die Lebensweise und Zuversicht ihrer Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkel zu sehen, die ich zuletzt im vergangenen Jahr auf der großen internationalen Journalistcnvcranstaltung auf dem Alexanderplatz erlebte. Die großutigstc aller persönlichen Begegnungen, die ich in dieser großartigen Stadt gehabt habe.

lut 7 arbeitete, fühlte ich mich mit meiner Arbeit auf eine bestimmte Weise auch meinen Berufskollegen in Berlin nahe. Mehrere Male war ich Gast in Berlin-Buch, wo ich seit Jahren mit Medizinalrat Prof. Dr. sc. mcd. Heine, dem Direktor des Zentralinstituts für Herz-Kreislauf-Forschung der Akademie der Wissenschaften der DDR, und seinen Kollegen zusammenarbeite. Ebenso herzlich empfingen wir die Wissenschaftler von der Spree bei uns an der Moskwa. Meine Kontakte mit Kollegen in der DDR erweitern sich. Inzwischen komme ich zu ihnen nicht mehr nur als ein Kardiologe, Herzspezialist, sondern auch als Mitarbeiter am Programm »lntcrkosmos«. An Berlin erinnern mich aber auch ganz persönliche Erlebnisse, die bis in meine Kindheit und Jugend zurückführen, als ich hier einige Zeit verbrachte. An den Plätzen unserer Kinderspiele in der damals noch von Kriegswunden so zemarbtcn Stadt stehen heute neue Wohnhäuser. Wie einzigartig und unverwechselbar ist dieses Berlin, die Hauptstadt der DDR, geworden! Jede neue Reise nach Berlin bringt nicht nur Arbeit, sondern auch Begegnungen mit neuen Menschen, neuen Genossen und Freunden. Lassen Sie mich grüßend sagen: »Ich wünsche dieser Stadt und ihren Menschen Frieden und Wohlergehen !« Dr. med. Oleg Atkow f1iegerkosmonaut der UdSSR

Jl/tyd Harrington , ehemaliger Vorsitzender des Rates von Groß-London.

A

n Berlin, an die Berliner denke ich gern, es verbindet mich in meinem Leben, in meiner Arbeit vieles mit dieser Stadt. Und als ich lange Zeit mehrere hundert Kilometer von unserem Blauen Planeten entfernt hoch im Kosmos als Bordarzt in der Orbitalstation Sa-

Moslcau

B

erlin ist mir immer ein Stück Heimat gewesen, denn meine Mutter stammt von dort. Während des Krieges studierte ich an der Berliner Universität und sah die Stadt nach und nach in Trümmer versinken. Im Jahre 1966 besuchte ich dann zum erstenmal Ihre Hauptstadt, um im BertoltBrecht-Archiv zu forschen. Seither komme ich regelmäßig jedes Jahr wieder. Ich habe in Ihrer Hauptstadt Kollegen kennengelernt und Freunde gewonnen und habe den

Oxford/Ohio enormen Wiederaufbau mit verfolgt - den Wohnungsbau, die Rekonstruktion der Kulturdenkmäler und die Verbesserung des Lebensstandards. Ich habe auch mein Stück Heimat wiedergefunden. Denn wenn auch viele jetzige Berliner aus anderen Gegenden der DDR zugezogen sind, so finde ich doch noch immer den kräftigen Berliner Dialekt und viele Eigenschaften, die für mich »typisch berlinisch« sind: den trok· kencn Humor, eine selbstverständliche Hilfsbereitschaft, eine ganz unsentimentale Treue und einen realistischen Sinn fürs Machbare. Eine Figur wie die Wally in dem Film » Paulines zweites Leben« repräsentiert für mich genau das, was ich an den Berlinern liebe und schätze und was mir seinerzeit, in den Bombennächten, das Durchhalten erleichtert hat. Ich bin sicher, daß diese schöne Tradition in Ihrer Hauptstadt weiterleben wird, und sende Ihnen zur 750-Jahr-Feier meine besten Wünsche. Dr. Gisela Bohr, Professor of German , Miami University

SEITE 41

r11 r

Jt

J t t11111 !l·

t111ofrattc. „ ....... a.. ,....,.. ~ ·)II\.

1 ....

1 ....



...... _ , , . . _

t



Es ist ein geschichtsträch Piiaster, diese Meile rund um den heutigen Marx-Engels-Platz. 1848 ist auch hier die ArbeiterkJaise zum t!l'Stenma mit einem Prognmn angetreten, das jahrluKJertealt Hoffnungen AUSdruck rerlieh, das den Enttechteten Arbeit und Brot rerhie8, der ganzen Gesellschaft ein Leben frei von Existenzangst und~ den Nachbamlkem das Ende der Furcht W1t' Überflll und Expansion. Nach hundertjährigem Kampf der Weltveränderer gegen tfe Welteroberer wurde im Herzen Berlins der deutsche Arbeiter-und-Bauernstaat geboren.

.-

Spuren

ins Heute

Hennann Kant: Denn wir haben ge/emt ie Kämpfe unserer Zeit sind die Folgen und sind die Vorläufer anderer Kämpfe. Dem, was ist, werden wir nur gerecht, wenn wir nicht vergessen, was war und was werden soll. Geschichtsbewußtsein, wir führen das Wort vielleicht schon zu oft und zu unbedacht im Munde, o ist es in Gefahr, zu einem fugenlo verglätteten Begriff zu werden. Es handelt sich aber um das Bewußtsein von der Ge chichte, e handelt sich darum, bewußt in der Geschichte zu sein, sich seiner in der Ge chichte bewußt zu sein. Um Wi sen und Gewis en geht e da. Wo man von Ursachen weiß und auf Folgen sieht und sich zu Folgen und L rsachen eine Haltung macht. dort ist Geschichtsbewußtsein - eine Haltung für die Kämpfe unserer Zeit. So werden Jahrestage nützlich : indem man sich bei ihrer Gelegenheit umsieht, in die Programme und in die Bilanzen, in die Erfolgslisten und in die Vertu tlisten. Dieser Platz ist ein Ballungsraum

von Geschichte. Ein paar hunden Schritte in den Zirkel genommen und einen Kreis um den Sitz der höchsten Volltsvertretung und um den Palast der Republik geschlagen - was für eine Rundmeile voll Geschichte, was für eine Kreisfläche, geprägt von den Kämpfen verschiedenster Zeiten stellte sich dann her! enn man den Punkt sucht, an dem - nach aller Kenntnis zum ersten Mal in Berlins Geschichte - das Volk der ihm aufgezwungenen kurfürstlichen Macht und deren Söldnern kräftig Zähne und Fäuste zeigte und kräftig Gebrauch machte von den Fäusten, beim sogenannten »Berliner Unwillen« vor über fünfhundert Jahren wenn man den Punkt suchte, hier, unter unseren Füßen, hätte man ihn. Und hätten wir das millionenfach feinere Gehör, von dem Stephan Hennlin einmal gesprochen hat und von dem er meinte, mit seiner Hilfe würde »uns ein erschütterndes, unerträgliches Chaos von Lauten aus Jahrtausenden erreichen. In diesem Lautchaos würde das Gebrüll von Sterbenden und der Schrei von Neugeborenen sein ... « - hätten wir das Gehör, so vernähmen wir in dem enNBI 1987

SEITE 44



Gruß der jungen Generation an die Partei

der Arbeiterklasse - Manifestation der FDJ zum ....___...a......;.;..,

gen Zirkel, den wir um uns gezogen haben, das Triumphgeschrei der Berliner Bürger von 1448 wie den Triumphgcsang der Berliner Bürger von 1848, die just an dieser Stelle den König gezwungen hatten, seinen Hut vor den Revolutionstoten zu ziehen. Wir hören beißende, zerreißende Flammen, und wir riechen brennendes Papier und brennendes Flei eh und sehen weit im Osten brechendes Licht. Und alles hat miteinander zu tun, und fast alles war von diesem Platz aus mit wenigen Schritten zu erreichen. enige Schritte von hier, dort ungefähr, wo sich die Touristen am Brunnen fotografieen lassen, erhob sich im Jahre 1510 ein bemerkenswertes dreistöclcigcs Gerüst, entworfen vom Berliner Scharfrichter, erd~ht und errichtet, achtunddreißig Juden, deren Schuld es war, Juden zu sein, öffentlich so zu verbrennen, daß sie einander beim Feuertod zusehen konnten, vom ersten hinauf in den zweiten und dritten, vom dritten hinab in den zweiten und ersten Stock des sinnreichen Mordgebäudes - Treblinlta, sieht man, hat früh begonnen, und Auschwitz., so lesen wir ProzeßbeNBI 1987

richte, ist noch nicht zu Ende. Aber bleiben wir bei den anderen Kämpfen der Zeiten, die in diesem Zirkel ihre Zeichen ließen. it unserem überschärften Ohr hören wir hinter der Oper das Johlen der Menge und das Jaulen der Flammen, wenn dort im schönen Monat Mai von den vielen schönen deutschen Büchern viele der schönsten und vielleicht auch viele der deutschesten verbrennen. Und fast ein Jahrzehnt später, ein Jahrzehnt näher an uns heran, ist noch einmal Feuer, gleich in unserer Nähe. Ober die Straße dort, im Lustgarten, brennt eine Ausstellung, mit der die Nazis rechtfertigen wollen, warum sie die Welt angezündet haben. Es sind junge Leute um den Jungkommunisten und Elektriker Herbert Baum gewesen, die dieses Schandmal zerstörten. Sie haben es mit ihrem Leben bezahlt, denn auch das gehört zum Kampf, wenn die Zeiten es so wollen. ber die Zeiten, die Geschichte, will einmal auch anders : Schon sechs Jahre nach dem Untergang der Gruppe Baum spricht im selben Lustgarten, das war am

30. November 1948, der Genosse Wilhelm Pieck über die Bildung der demokratischen Verwaltung von Berlin. Und wären da nicht in eim:m anderen Mai welche gekommen, auch sie über die Straße, von der ein Teil den Durchmesser hergibt zu uns"trem Kreis, wären nicht die Soldaten mit den roten Fahnen, den roten Sternen, den roten Liedern und den blutigroten Verbänden in unseren Kreis getreten, wer weiß, was dann noch übrig wäre von uns. Aber wir sind da, wir sind tätig, und wir sorgen, daß der Bereich um uns herum ein Friedenskreis bleiben wird. Denn wir haben gelernt. Das kreisrunde Areal, in dessen Mitte wir uns befinden, ist voll Spuren derer, an die wir uns halten. Schließlich ist Marxens Universität in der Nähe, die auch die Universität Hegels und Fichtes und der Humboldts war. Schließlich ist Llebltnechts Balkon in der Nähe. Schließlich ist da unten der Heine herumgelaufen, hat da drüben der Gottfried Keller gewohnt und da hinten der Lessing logiert. Und schließlich, aber wirklich nicht zuletzt, hört unser überscharfes Ohr die Schwüre der Jugend noch, die auf dem Platz hier unten, dem Marx-

XI. Parteitag der SED

Engels-Platz., gesprochen worden sind, den Schwur, dem Frieden die Treue zu halten und ihn zu verteidigen, den Schwur, ein neues Leben aufzubauen und es zu verteidigen, den Schwur, die Humanität zu verteidigen. laue Fahnen nach Berlin, haben wir gesungen - die blauen Fahnen sind hier und bleiben hier. Und die roten dazu. Du hast ja ein Ziel vor den Augen. haben wir gesungen - wir haben das Ziel immer noch vor Augen : wir sind ihm näher gekommen und sehen es genauer. Bau auf, bau auf, haben wir gesungen - und ob wir aufgebaut haben ! Wir sind immer noch dabei. Aber von den vielen Liedern, die wir gesungen haben und die auf ihre Art auch Schwüre waren, wollen wir das eine nicht vergessen, da mit den Worten endet : )>Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.<<

(Aus einer Rede, gehalten vor dem VIII. Schriftste//erlcongreß der DDR, für unser Sonderheft bearbeitet und autorisiert)

SEITE 45

dung des Bauwerks ziehen staubbcdcckt Eskadronen und Bataillone durch Brandenburger Tor, zurückgekehrt aus dem Krieg gegen Frankreich, in dem sie Elsaß-Lothringen für das neue deutsche Reich erobert und die Pariser Kommune im Blut erstickt haben. Die Göttin da oben, die auf den Zug hinunterschaut, an dessen Spitze der in Versaille gekürte Kaiser reitet, wird nun eine de Sieges geheißen. Noch viele Soldaten wird sie dort unten paradieren sehen, in unterschiedlichsten Uniformen, erst blau und rot mit funkelndem Gold, päter dem Felde angepaßtes Grau. Und sie wird Worte von Donnerhall, Schwertgeklirr und Wogcnprall vernehmen, hören, daß sie gegen Engcland fahren und siegreich Frankreich schlagen, daß sie schließlich, weil ihnen heute Deutschland und morgen die ganze Welt gehöre, wcitcrmarchicren wollen, bis alles in Scherben fällt. Und dann fällt ja auch sie.

Volker Schielke: Die Schicksale der Friedensgöttin s ist ein Berliner Wahrzeichen geworden, das massive Tor mit dem trabenden Viergespann und der grazilen Göttin, die die edlen Ro sc bändigt. »Die gute Frau hat auch ihre Schicksale gehabt«, meinte einst Heinrich Heine in einem Brief aus Berlin, »man sicht's ihr nicht an, der mutigen Wagenlenkerin.« Wie wahr: Gespann und Lenkcrin haben ihre Schicksale gehabt, und das schrecklichste konnte der Dichter nicht vorau ahnen. Man sieht es ihr, muß man heute sagen, nicht mehr an, der Friedensgöttin auf dem Brandenburger Tor, für die die schöne Schmicdcstochtcr Ulrike Jury au dem Berliner Bullenwinkel einmal Modell gestanden. Man sieht sie nicht mehr, die Wunden, die Geschosse geschlagen, die Verstümmelungen, die Granaten hintcrlas cn hatten. Als sowjcti ehe Soldaten am 1. Mai 1945 ihre rote Fahne auf dem Tor hißten, war von Pferden, Wagen und Lenkcrin ein kümmerlicher

Spuren

Schrotthaufen geblieben. Aber sie ist wicdcrcrstandcn, die Quadriga, die nach dem Willen des Baumeisters Langhans den »Triumph des Friedens« vorstellen sollte. Sie ist stärker geworden, kraftvoller mit ihrer Neugeburt ; stärker das Kupfer, aus dem sie getrieben, kraftvoller der Gedanke, für den ic gc chaffcn. 1 Heinrich Heine dem BcrlinBcsuchcr empfahl, vor dem Brandenburger Tor stille zu stehen und die Göttin »da oben« zu betrachten, waren erst wenige Jahre vergangen, cit sie auf ihren luftigen Platz zurückgekehrt. Nach dem Sieg über Preußen bei Jena und Aucrstcdt und Napoleons triumphalem Einzug in Berlin hatte sie dem Korsen, den Berliner Temperament darob einen »Pfcrdcdicbcc nannte, nach Pari folgen müssen und acht Jahre im erzwungenen Exil verbracht. Doch was war schon dieser Paris-Aufenthalt der »guten Frau«, wie Heine sie nannte, gegen das traurige Ende, das sie im April 1945 genommen ? Ein »Tor des Frieden << wollte Carl Gotthard Langhan erbauen und auf dem Attikarclicf den Sieg des Friedens über den Krieg dargestellt haben. Achtzig Jahre nach der Vollen-

ins Heute

wcimal in diesem Jahrhundert sieht unsere Göttin Soldaten hinausziehen, die Welt, zumindest große Teile von ihr, zu erobern; zweimal geht von dieser Stadt, von diesem Land ein furchtbarer Krieg aus. Die Liaison zwischen Militär, das mit Glanz und Gloria paradiert, und Kapital, da auf Schau tcllung meist verzichtet, kostet die Völker unsäglich viel Leid und Blut. Doch unsere Göttin hat auch andere Züge durchs Brandenburger Tor kommen sehen, Menschen, die rote Fahnen trugen, die Arbeit forderten und Brot und Völkerfrieden. Während des Krieges, in dem das imperialistische Deutschland geboren wurde, sandten sie ihren französischen Klassengenossen Botschaften des Friedens und der Freundschaft. »Diese einzige große Tatsache, ohnegleichen in der Geschichte der Vcrgangcnhcitcc, bemerkte dazu der Mann in London, der dem Kampf der Arbeiter das wisscnschantiche Fundament gab, »eröffnet Aussicht auf eine hellere Zukunft. Sie beweist, daß, im Gegensatz zur alten Gesellschaft mit ihrem

'

ökonomischen Elend und ihrem politischen Wahnwitz, eine neue Gesellschaft entsteht, deren internationales Prinzip der Friede sein wird, weil bei jeder Nation dasselbe Prinzip herrscht - die Arbeit!« ls un crc Göttin nach ihrem schwersten Schicksalsschlag wiedergeboren wurde, waren jene die Bauherren des Brandenburger Tores, die sich im Kampf für das Glück des Volkes als die Standhaftesten gezeigt und unter faschisti ehern Terror am meisten gelitten haben. Im Herzen Berlins hatten sie 1918 die Kommunistische Partei gegründet und 1946 die beiden Arbeiterparteien zu einer großen Kraft vereint. Nun errichteten sie auf deutschem Boden jene Gesellschaft, von der Karl Marx gesprochen hatte. Das

Prinzip Friede wußten ie zu verteidigen; nicht zuletzt als andere davon träumten, daß die Bundeswehr mit klingendem Spiel durchs Brandenburger Tor ziehen könnte. Am 13. August 1961 chufcn sie an der Staatsgrenze klare Verhältnis c. Sie retteten den Frieden und erteilten eine Lektion in politischem Realismus. Zu Füßen der Friedensgöttin scheiterte Politik der Stärke, zerbarsten gefährliche Illusionen, wurde anderen Einsicht v~.-mittclt , daß es zu friedlicher Koexistenz keine akzeptable Alternative gibt. Könnte unsere Göttin reden, ic würde zu olchcr Vernunft mahnen. Und kennte sie den Heine, 1c würde meinen, es ci nun de chlimmcn Schicksals genug gewesen. Fotos: Th. Sandberg. ZB. Archiv. Fotografik : Joachim Jansong

-SEITE - -47

Im l.6ser-Ubor: Günter Butzie (rechts) und Dr. Jiirgen Frlhm geh6ren zu einem Kollektir ran Prllktikem und Wissenschlft/em 111$ der Akademie und der Industrie, da Llserdioden erlot'SCht und entwickelt.

D

ie fabelhafte »ZOS-Ameise« ist Günter Butzlce nicht unbekannt. Seit Jahren arbeitet der Bereichsleiter aus der Abteilung Forschung des Werkes für Fernsehelektronik Berlin mit Partnern im Zentralinstitut für Optik und Spektroskopie der Akademie der Wissenschaften der DDR (ZOS) zusammen. So weiß er auch vom optischen Scherz der Wissenschaftler. Unter dem Elektronenmikroskop vergrößerten sie die nun wie ein Fabelwesen wirkende Ameise, um einen Winzigkeitsvergleich zu demonstrieren : So klein wie das Auge des Insekts etwa ist der sogenannte Laserchip, Herzstück eines optoelektronischen Bauelementes, das Forscher aus dem WF und Wissenschaftler der Akademie gemeinsam entwickelten und in die Produktion überführten. Die Größe der mit dem Nationalpreis gewürdigten Leistung steht im umgekehrt proportionalen VerhäJtnis zur Winzigkeit des Laserchips. »Der Vergleich mit dem Auge der Ameise veranschaulicht die neue Qualität optoelektronischer Bauelemente«, benutzt Günter Butzlce das Bild, um den unaufhaltsamen Vorstoß in die Winzigkeit als ein Merkmal vieler Hochtechnologien zu beschreiben. Ein Laser ist gewöhnlich eine ziemlich kompakte technische Anlage, mit deren Hilfe Liebt verstärkt und seine Energien so gebündelt werden, daß mit dem Strahl selbst stärkste Stahlplatten zu durchbohren sind. Auf die Idee jedoch, einen Laser im Mikrobereich, im Halbleitennaterial zu erzeugen, waren sowjetische Wissenschaftler bereits vor Jahrzehnten gekommen. In enger Beziehung zu ihnen erforschten auch Wissenschaftler unserer Akademie beharrlich den Miniaturlaser. Denn weit· weit entwickelte sich die Llchtleiternachrichtentechnik - die Übertragung von Bild, Text und Ton per Glasfaser - die auf ein geeignetes Sendeelement angewiesen ist. fieberhaft wurde seit Beginn der 70er Jahre daran gearbeitet. Dieses Sendeelement ist ein Laserchip. Er wandelt elektrische Signale in optische um und sendet je Sekunde Millionen solcher Lichtimpulse durch eine Glasfaser. Am Ende der Lichtleitung werden die optischen Signale dann wieder in elektrische umgewandelt. Das leistungsstarke Laser-Schnippelchen mißt nicht mehr als 0,2 mal 0,4 mal 0,1 Millimeter. Es steckt zusammen mit einem Minikühlsystem, das eine Arbeitstemperatur von 25 Grad Celsius garantiert, und anderen Bauelementen in einem Gehäuse. Dieser sogenannte La ennodul ist eine miniaturisierte Lichtfabrik, die Spitzenleistungen aufweist.

»Unsere Technologie, solch einen Spitzen-Chip in Serie herzustellen, beruht sowohl auf den Forschungsergebnissen der WissenscbanJer als auch auf dem technischen Knowhow des Werkes für Fernsehelektronik«, erklärt Günter Butzlce und verweist auf eine lange Tradition in der Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen und die reichen technologischen Erfahrungen im WF. Sein Betrieb war 1951 auf dem europäischen Kontinent der erste, der die Serienproduktion von Fernsehbildröhren aufnahm. Inzwischen sind Farbbildröhren das Haupterzeugnis. Aus dem WF als Alleinhersteller von optoelektronischen Bauelementen in der DDR kommen optische Sensoren für die Robotertech-

nik, alle Anzeigeelemente, die rot, gelb, grün und orange an Konsumgütern aufleuchten, jegliche Bildaufnahmeröhren in Fernsehkameras sowie die Senderöhren der Post. .. »Die Schlüsseltechnologie Optoelektronik erschließt sieb laufend neue Anwendungsgebiete. Um mit dem internationalen Tempo Schritt halten zu können, müssen wir alle wissenschaftlichen und produktiven Potenzen entfalten«, sagt der Forscher aus dem Werk für Fernsehelektronik. »Wir hatten den denkbar besten Praxispartner, als es den Mini-Lasereffekt technisch nutzbar zu machen galt«, bekräftigt Dr. Jürgen Frahm aus dem Akademieinstitut für Optik und Spektroskopie die Notwendig· keit, wissenschaftliches und technologisches Wissen zu verbinden. »Neues erforschen und vorhandene Kenntnisse praktisch anwenden, gehört zusammen«, meint er. »Man muß dabei von den Erfordernissen unserer Zeit und den Bedürfnissen unseres Landes ausgehen. Theoria cum praxi lautet das verpflichtende Motto unserer Akademie, das schon auf ihren Begründer Gottfried Wilhelm Leibniz zurückgeht.« Rückenwind erhielten die Wissenschaftler bei ihrem Gang in die betriebliche Praxis nicht nur durch technisch herangereifte Fragen, sondern auch mit den Beschlüssen des Zentralkomitees der SED zur verstärkten Zusammenarbeit der Akademie mit Betrieben und Kombinaten. Das führte zu neuen vertraglichen Regelungen

GottfritJd Wil'-lm Leibniz begtiindete "" n. Juli 1100 die .clufintlichBrlndenburgiscfte Societlt der Wis~. Uber ihte Aufgaben schrieb er: .Solche Churfint/iche Societlt müste nicht IUf bio& Curiosidt oder Wmens-Bl!gitrde und unfruchtbare Experimenta gerichttt .,,,, sondern """ müste gleich 111fangs da Wen:k samt der WISStfJschaft IUf den Nutzen richten«.

johlnnes Stroux, der erste Prlsident der im }6hte 1946 rtiedetaNflmn Akademie, trillttt in seiner Anspflche: 1IDie Sorge, lii den gemeiffSlmen Nutzen und die Wohlflhtt des Volkes zu rieiten, die schon Leibniz ran im fol'derte, wird ein Chnkterzug ihm neuen Wesens sein, der sich 1US der Einordnung der M,._ mie in den neuen sozialen Aufbau der Gesellschaft ergibt.•

im beiderseitigen wirtschaftlichen Interesse. »Nur mit Hilfe der Wissenschaft kann Berlin seinen anerkannten Stand auch in der Opt~lektronik behaupten~. sagt Dr. Frahm. Er erinnert an große Namen der Vergangenheit, an Planck, Helmholtz und Einstein, die für die Entwicklung der Physik in Berlin und ihre industriellen Wirkungen stehen. Werner von Siemens nutzte schon vor der Jahrhundertwende in dieser Stadt das von ihm entdeckte dynamoelektriscbe Prinzip, mit dem Elektrotechnik, Funk und Telegrafie überhaupt erst möglich wurden. Die Berliner S-Bahn beruht auf Gemeinschaftsleistungen von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern, wie auch die Gründungen der Elektrizitätsgesellschaften der Stadt. Nicht zu. letzt sind in Berlin moderne elektrische Lichtquellen entwickelt worden. Zwischen 1880 und 1890 ging in Berlin auf Straßen und Plätzen das Licht an : 1882 wurde die Leipziger Straße beleuchtet, 1884 das erste öffentliche Gebäude der Stadt, das berühmte »Cafe Bauer« Unter den Linden. Ab 1885 brannten elektrische Kerzen im Schauspielhaus. Mit der Beleuchtung begann die Elektrifizierung Berlins, Elektromotoren in Fabriken und Werkstätten beschleunigten den technischen Fortschritt. Der Ruf nach mehr Licht und die Anwendung physikalischer Erkenntnisse waren also frühe Schlüssel zur industriellen Entwicklung Berlins. Doch die »Lichtjahre~ stehen uns noch bevor: »Mit der Optoelektronik gehen wir einen revolutionierenden Weg in der Technik. Unsere >Lichtfabrik<, der Lasermodul, gibt dabei wichtige Impulse«, sagt der Wissenschaftler. Die Optoelektronik kann Roboter sehend machen, sich selbst kontrollierende Maschinen schaffen. Sie wird es den Menschen ennöglichen, sich schnell und umfassend zu informieren, Studioqualität über Funk und Fernsehen zu empfangen, per Lichtleitung Buchungen, Bestellungen und Einkäufe zu erledigen. »Wissenschaftler und Praktiker werden von den faszinierenden Möglichkeiten dieser neuen Technologie be· wegt«, sagt Dr. Jürgen Frahm, »da sie unter sozialistischen Verhältnissen der Volkswirtschaft wie dem einzelnen neue Perspektiven eröffnet, oder wie Leibniz es einst vorschwebte, auf den Nutzen für >Land und Leute< ausgerichtet ist.« Text: Ursula B~rgmann Grafik: Sv~n Od~ning Fotos: Archiv Farbfoto: Eberhard Klöppel NBI 1987

SEITE SO







Altag der Sptee:

e

tß ' Ein Blick in den Altag Betfins, in die ganze V'telfalt der LebensiulJerung seiner 1,2Millionen Einwohner: Geschäftigkeit und Wohlll!finden, 111f11!$tl't!flgte Arbeit, rerdiente Freizeitfreuden ••• Tag fii Tag wild hier 132mM Einzug gefeiert, werden Waren im Werte W1t1 über 100 Ailooen Mn eneugt, hohe Leistungen W1t1 der ganzen und fii die ganze Republik etbtacht. Einblicke in Struktlnn llJd Potenzen tleser Stadtgibt der folgende Beitrag des Wlftst:haltspubl Dr. Kid-Heinz Arnold. Einblicke in Inn Altag rennitteln lllCh die Fotos W1t1 Biktepotter Thomas SantlJetg, die - ""diesen Seitet1 zusammenstelten.

erlin am Morgen. Hunderttausende sind zur Arbeit unterwegs. Bahnen und Busse knakkend voll, die Straßen von einer viertel Million Autos mehr oder weniger verstopft. Die Stadt scheint aus den Nähten zu platzen. Aus angrenzenden Kreisen kommen Zehntausende, um hier zu arbeiten, Einpendler nennt sie die Statistik. Nicht zuletzt packen 25 000 Dauergäste gut zu : junge Bauleute und weitere Fachkräfte aus allen Bezirken der Republik. Bei 1). Millionen Einwohnern kommt die Hauptstadt und größte Industriestadt der DDR auf 670 000 Berufstätige. Das heißt., fast alle Bürger im arbeitsfähigen Alter (67,5 Prozent der Einwohner) stehen im Arbeitsprozeß. Und so mancher Berliner im Rentenalter (14,3 Prozent der Einwohner) ist noch berufstätig. Unterwegs an diesem Morgen, allein oder von Eltern begleitet., sind auch viele Kinder, die insgesamt 18,2 Prozent der Bevölkerung ausmachen : Sie traben zur Schule, werden in den Kindergarten oder in die Krippe gebracht. ie Stadt am Morgen - das ist zuerst eine Leistung des Verkehrswesens. Die fast 1000 Straßenbahnen Berlins haben die meisten Fahrgäste, 200 Millionen im Jahr, gefolgt von S-Bahn (167 Millionen), Omnibussen (138 Millionen)

B

1 Altes~

2 Inder~

3 S-llthnhol ~Allee

'

ätion~dtt

Humboldt-Unirersitit 5 In dtt Ala-Plmge 6 An dtr lbn-Engtls-Briäe

D

und U-Bahn (89 Millionen Fahrgäste). Tendenz steigend : Das Netz von S- und U-Bahn wird ausgebaut., weitere Straßenbahn- und Buslinien kommen hinzu. Berlin am Morgen - das läßt auf den ersten Blick erkennen : Hier ist eine Stadt voll gesunden, kraftvollen Lebens. Dies ist eine der wenigen Hauptstädte der Welt ohne Arbeitslose und ohne Obdachlose. Hier sind die Kinder behütet., und alle können lernen, sollen lernen und nochmals lernen, alle haben die gleichen Chancen - ein großer Vorzug unserer Gesellschaft. Dafür sind in den letzten 15 Jahren über 250 neue Schulen errichtet worden - eine in der Geschichte Berlins beispiellose Leistung. (Zum Vergleich: In den 75 Jahren von 1870 bis 1945 wurden 127 Schulen gebaut.) ies ist eine Stadt mit wachsender Bevölkerung, ohne daß damit., wie weltweit anzutreffen, die sozialen Probleme wachsen. In anderthalb Jahrzehnten sind etwa 130 000 Einwohner hinzugekommen. In dieser Zeit sind rund 800 000 Berliner in neue oder modernisierte Wohnungen gezogen - das größte aus dem Kapitalismus übernommene soziale Problem wird Schritt für Schritt gelost. Kein Zufall also: Seit 1979 hat Berlin Geburtenüberschuß und verjüngt sich immer mehr. Um Fortsttzung auf Stitt 54

D

NBI 1987

SEITE S2





l EcktK~

6 CllN "" ,,., 9 In F1i«Jlichsltldt

10 ~JetkrChlrite

n

Bei Bqmnn-Botsig 11 ,,.,., ScNintfeld 13 ""*ile in ""1uhn

u

Con---Blbnbol ~Allee 15 Auf dem Miiggt/•

SEITE SJ

Einblicke Fortsetzung von Seite 52 die gesundheitliche Betreuung der Berliner sorgen sich über 6200 Ärzte und Zahnärzte. icht alle, die früh in Berlin unterwegs sind, fahren zur Arbeit. Viele haben jetzt am Morgen Feierabend. In einem großen Teil der 156 Industriebetriebe wird rund um die Uhr Dampf gemacht, werden die laufenden Maschinen von einer Schicht an die andere übergeben. Tag und Nacht rollt der Güter- und Personenverkehr, werden die Dienst- und Versorgungsleistungen erbracht, die zu einer Großstadt gehören. Man muß also ständig hinschauen und auch hinter die Werktore blicken, um voll ermessen zu können, welche Quantitäten an Werten die Stadt hervorbringt und welche Qualitäten sie dabei schafft zum Nutzen der g a n z e n Republik. Dies stellt sicherlich die wichtigste Vorleistung für das Jubiläumsjahr 1987 dar: Die Berliner Industrieproduktion 1986 überstieg erstmalig 20 Milliarden Mark. Das ist die bisherige Krönung eines ununterbrochenen Aufschwungs. Besonders erfolgreich war die Entwicklung in den 70er und 80er Jahren. In anderthalb Jahrzehnten seit 1971 wurde eine Industrieproduktion erreicht, die fast doppelt so hoch ist wie in den 21 Jahren von 1949 bis 1970. n diesem erstaunlichen Aufschwung - Berlin war 1945 eine der am stärksten zerstörten deutschen Großstädte - ist die Elektroindustrie besonders beteiligt. Der traditionsreiche Industriezweig erwies sich unter sozialistischen Verhältnissen stets als Schrittmacher einer krisenfreien, mehr und mehr dynamischen Entwicklung der Berliner Wirtschaft. Die Elektrotechnik/Elektronik: hatte stets die höchsten Steigerungsraten der Produktion, und mit fast 78 000 Beschäftigten bewältigt sie heute ein Drittel der Industrieproduktion unserer Hauptstadt. Berlin hat von allen Städten der DDR die größte Konzentration der Elektroindustrie, liefert 16 Prozent der gesamten Produktion dieses Bereichs und entwickelt sich immer mehr zu einem Zentrum der Mikroelektronik. Die Fertigung von optoelektronischen Bauelementen für die Automatisierungstechnik: ist einer der neuen Tempobeschleuniger: Der l 985er Produktionsumfang soll bis 1990 verdoppelt werden. Auch das kennzeichnet die Bedeutung der Hauptstadt für die ganze Republik : Aus Berlin kommen alle optoelektronischen Halbleiter-Bauelemente, sämtliche AJlgebrauchsGlühlampen bis 200 W, alle Radiorecorder, alle Farbbildröhren, die Hälfte aller elektrotechnischen AusFortsetzung auf Seite 57

N

A

1

SEITE S-4

NBI 1987





6

1

v•

..,.._,,,.,._AJ/ee

1

Grolbtift Mlmltn 3 Stnla~ .......

'

/ndtrS-Blhn 5 Im SfMlwnbttritb dt$ •l. 6

"*'*"

~WINleidt

l loutiqut

„ Spittelmrit

'

S-""""'11SdrJnltlus An.

NBI 1987

SEITE SS

'

1

l/umfnstn/.,, PrfllZlluer a.g 2 3"'*~ Vor dem Prtganon-Altltr

'

AndtrNfuttrWde

5 Im rltl'pld 6

Alntaitzdes~

7 Unllr den LindtJn

'

In• K6/lni$dttn HtitJe

9

Voibpri PrrtnzllutJr kg 10 " " , . , . Rlpublii

SEITE 56





Einblicke Fortsetzung von Seite 54 rüstungen für Industrieanlagen, 45 Prozent aller Kabel und Leitungen, die in der DDR produziert werden. In der Elektrotechnik/Elektronik wie in den anderen Arbeitsbereichen der Hauptstadt haben die F r a u e n entscheidenden Anteil an der Gesamtfeistung. Genau 49,5 Prozent aller ständig Berufstätigen gehören zum angeblich »schwachen Geschlecht«. Ohne ihre Stärke, ihren Einsatz wäre die eindrucksvolle Entwicklung der Berliner Wirtschaft nicht denkbar. n allen Prozessen, die mit dem Vormarsch der Schlüsseltechnolo· gien und der Produktion modern· ster Berliner Erzeugnisse verbunden sind - ob Lichtleitkabel oder lndu· strieroboter, Automatisierungsanlagen oder Schleifmaschinen mit mikroelektronischer Steuerung -, erweist sich das Bündnis der Industrie mit Instituten der Akademie der Wissenschaften, der Humboldt-Universität sowie anderen Stätten der Lehre und Forschung als zunehmend fruchtbar (es gibt in Berlin weitere sieben Hoch- und 17 Fachschulen). Sehr viel hängt für die gesamte Republik davon ab, wie es in der Hauptstadt gelingt, diese Gemeinschaftsarbeit zu höchster Wirksamkeit zu führen. Immerhin ist hier ein Fünftel des gesamten Forschungsund Entwicklungspotentials der DDR konzentriert. ast ein weiteres Drittel der Industrieproduktion Berlins geht auf das Konto des Maschinen- und Fahrzeugbaus, hier vor allem des Werkzeugmaschinenbaus, sowie der Leichtindustrie, speziell der Möbelindustrie und der Konfektion. as dritte Drittel wird von Betrieben bestritten, die wiederum eine erhebliche »Bandbreite« aufweisen, andererseits aber Gemeinsamkeiten haben: Nahrungsund Genußmittelindustrie, Kosmetik, Pharmazie und Chemie - das meiste, wlls hier produziert wird, ist zum alsbaldigen Verzehr, zum heilsamen Verbrauch oder zu unserer Verschönerung bestimmt. Hier spielt auch ein zukunftsträchtiges Stichwort eine besondere Rolle: die Biotechnologie. Für ihre unterschiedlichen Einsatzgebiete gibt es in Berlin bereits ein bedeutendes Potential. Und was die nahe Zukunft betrifft, so hat Berlin die Aufgabe, in der Wirtschaft der DDR eine bestimmende Rolle bei der raschen Anwendung biotechnologischer Verfahren zu spielen. Sichtbare Anstrengungen werden unternommen, um aus Berliner Betrieben mehr neue hochwertige Konsumgüter auf den Markt zu bringen. Dazu sind auch alle jene GroßbeFortsetzung auf Seite 58

I

9 10

F

D

NBI 1987

SEITE 57

Einblicke Fortsetzung von Seite 57 triebe aufgefordert, die traditionell lnve titionsgüter herstellen. Übrigens setzt der Handel in der Hauptstadt schon seit Mitte der 70er Jahre mehr Industriewaren als Nahrungsund Genußmittel um, eine positive Tendenz, die ich offenbar verstärkt. are für 12 Milliarden Mark wird jetzt jährlich vom Berliner Einzelhandel verkauft (davon 1,2 Milliarden Mark Gaststättenumsatz) - eine bedeutende Leistung, an der die Mitarbeiter von rund 600 Kaufhallen einen besonders großen Anteil haben. Täglich werden in Berlin 17 500 Pakete Wäsche gewaschen, 9000 Schuhreparaturen ausgeführt, 14 500 Bürger beim Fri eur bedient. Oberhaupt: Was wäre Berlin ohne seine fast 4700 Handwerksbetriebe, die Bäcker und Fleischer, Schneider und Schuhmacher, Polsterer und Schlosser. Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 150 neue Gewerbegenehmigungen erteilt. Das Leben in Berlin wird nicht zuletzt von seinen Besuchern geprägt. Rund sechs Millionen waren es 1986. Im Jubiläumsjahr werden es sicher bedeutend mehr sein. Besonderer Anziehungspunkt auch für sie : 12 Theater und 25 Museen der Hauptstadt, die Leistungen von rund 10 000 Künstlern und Kulturschaffenden Berlins. urück zum Beginn - Berlin am Morgen. Dies wird ein besonderer Tag für so manchen, der heute unterwegs ist. Er wird - allein oder zu zweit oder mit der ganzen Familie - in eine neue oder modernisierte Wohnung ziehen. Das geschieht im Durchschnitt an jedem Arbeitstag des Jahres 132mal. So war es im vorigen Jahr, so ist es in diesem Jahr, so wird es im nächsten Jahr ein. Tag für Tag 132mal bes eres Wohnen - für junge Eheleute, für Arbeiterfamilien, für Rentner. Und wenn dann die Möbel eingeräumt sind, soll es an einem kräftigen Schluck Bier nicht fehlen. Das traditionelle Berliner Getränk - darunter das Bier zum Fest »Jubilar« wird in guter Qualität und bemerkenswerter Quantität gebraut : 292 Millionen Liter im Jahr - jeden Tag 800 000 Liter, ob Sonntag oder Werktag. Das reicht auch fürs Jubiläum unserer Stadt.

W

Z

Gestaltung: Dietrich Otte

NBI 1987

SEITE 58





,.,......,„.Fildtrit-' 7

'

Gaf111M..,.irlt1f6uu 9 lln Emlt-,,.,..._M 10

„,,,, ,,,.,

Fri«lddlt~

1 Allldtr~

1 ....... ~lkltrt;tz-Sln&

J Eimlg • SprilvJluN

',,,

""Jutlttttb~ ;,,, ,.,

5

"" r,,,,.,t 6

Im~

NBI 1987

SEITE S9

:;


l ....~

fing~

moer

.Ar6~'Uln(!form

dtlr

.'Xr rel="nofollow">7»9Vic5 PreMßi-schen Gan-defoß-

h'1ilbt-w 181:1-

.. r

.



„.

„.;~

"'
......

;

• ZudmSDten60/ 6/

Poesie und Wassenschaft

r;t-~=-'Lw l'I\__ ')-=--- ·

}--. ...

•, • -

~.

l . ...t._

,,,.::.



- ~· 't""'

;.;. 1

1'«

.„ -- ...

, ~·>tlU'ma„a ... . .

Von oben nlClr unten: Dis 1'Buch der Ue/Je. enthllt tinen Ttil der Gedichte, die Karl Mn in Berlin für mnt Verlobte }t!nny schrieb I Auszug IU$ dem Matriktlbuch der Berliner Unirersitlt mit der Eintragung W1t1 KM'f Mn am 22. Oktober 1836 I Sie begründeten um 1830 den Ruf Berlins als Stltte der GelehrsMnlctit: 1. W. .-. Humboldt, 2. C. W. Hulr/and, 3. A• .-. Humboldt, 4. C. Ritter, 5.J. A. NMK/er, 6. F. E. 0. SchltiertnllChlr, 7. G. W. F. Hegel (Uthogrl-

phit W1t1 J. Schoppe)

Zusammen sind sie nje in Berlin gewesen, obwohl sich ihre Wege hätten kreuzen kOnnen zwischen Friedrichstraße und Gendarmenmarkt. Unter den Linden oder auf dem Scbloßplatz, der heute ihren Namen trägt. Um ein paar Monate nur verfehlten sie sich bei ihrem ersten Aufenthalt in dieser Stadt. Freilich : Verfehlen ist wohl nicht das richtige Wort. denn sie kannten einander noch nicht. die beiden Zwanzigjährigen, deren Namen heute immer in einem Atemzuge genannt werden : Karl Marx und Friedrich Engels. Das Denkmal an der Spree im Mittelpunkt des neuen Marx-Engels-Forums zeigt sie beide vereint. Marx sitzend, Engels neben ihm stehend, im reifen Alter, auf dem Höhepunkt ihres Wirkens: die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus, die Führer der ersten Internationale. Ihr Blick geht hinüber zu den neuen Häusern der Rathausstraße, wo der achtzehnjährige Marx vor etwas mehr als 150 Jahren, im Herbst 1836, und fünf Jahre später der einundzwanzigjährige Engels an der zentralen Posthalterei in der damaligen KOnigstraße zum erstenmal Berliner Boden betraten. In dieser Zeit ist Berlin, wie Friedrich Engels schreibt. eine »kleine sogenannte >Residenz< von kaum 350 000 Einwohnern und lebte vom Hof, vom Adel, von der Garnison und der Beamtenwelt«. Die Stadt zählt 17 Tore, 290 Straßen und Gassen, 24 Offentlicbe Plätze und Märkte, 32 Kirchen, ein Schloß, 20 Paläste, ein Museum und eine Universität. Und diese Universität ist nach Engels »das Allerbedeutendste in Berlin. das, wodurch die preußische Hauptstadt sich so sehr vor allen andern auszeichnet«. Keine zweite Universität steht wie sie »in der Gedankenbewegung der Zeit«, hat sich »so zur Arena der geistigen Kämpfe gemacht«. Unter den akademischen Lehrern wirken Vertreter aller Richtungen, was eine lebendige Polemik möglich macht. wie wir sie später in allen Schriften von Marx und Engels wiederfinden. SC HWÄRMERISCHE LIEBESBRI EFE UND DER DRANG ZUR PHILOSOPHIE

Im Oktober 1836 wird Marx unter der Nummer 973 an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin immatrikuliert. um, wie es der Vater wünschte, Jurisprudenz zu studieren. Das Universitätsgebäude Unter den Linden, das eigentlich als prinzliches Palais errichtet worden war, wird gerade umgebaut. Aber auch im geistigen Leben der Universität ist nach dem Tode Hegels ( 1831 ) manches in Bewegung gera-

Marx und

ten. Der junge Marx bricht. wie er seinem Vater schreibt. »alle bis dahin bestandenen Verbindungen ab, machte mit Unlust seltene Besuche und suchte in Wissenschaft und Kunst zu versinken«. Doch zunächst schreibt er seiner heimlich Verlobten Jenny von Westphalen zahllose schwärmerische Liebesgedichte, die er in drei Bänden an sein »süßes Herzens-Jennychen« nach Trier schickt. Aber je mehr er sich in die Wissenschaft vertieft. um so mehr tritt dje Poesie zurück. Er fühlt »vor allem Drang, mit der Philosophie zu ringen«. Überarbeitet vom nächtelangen Studieren, wird er im Winter 1836/ 37 ernstlich krank. Auf ärztliches Anraten verläßt er im Frühjahr seine Wohnung in der Innenstadt und zieht hinaus vor die Tore Berlins, nach Stralau. Dieser Aufenthalt »an der Spree schmutzigem Wasser, das Seelen wäscht und Tee verdünnt«, wie er in Abwandlung eines HeineWortes an den Vater schreibt, kräftjgt seine Gesundheit. Er nimmt an einer Jagdpartie mit dem Wirt teil, vergnügt sieb beim Stralauer Fischzug, erholt sich in stillen nachdenklichen Stunden am Spreeufer. Wiederhergestellt von der Krankheit, verbrennt er alle Gedichte und Anlagen zu Novellen, vertieft sich in Hegels Werke, die er bisher nur fragmentisch gelesen hat, um sie »von Anfang bis Ende, samt den meisten einer Schülern, zu studieren. IM CAFE »STEHELY« TRAF SICH DER DOCTORCLUB

Georg Wilhelm Friedrich Hegel war der Stolz der Berliner Universität. Er war jahrelang ihr Rektor gewesen, und unter den Professoren gab es viele, die seine Lehre gegen aJle reaktionären Angriffe verteidigten. Ein Teil seiner Anhänger ging bereits über Hegels philosopbjsche Schlußfolgerungen hinaus. Zu ihnen gehörte Professor Eduard Gans, bei dem Marx im ersten Semester Kriminalrecht und preußisches Landrecht horte, ein liberaler Wissenschaftler, der sich nicht scheute, »ein kühnes Wort zu sagen«. Angeregt von Gans, suchte Marx über das Hegelsche System, das die Wirklichkeit nur als Abbild der Idee betrachtete, hinauszukommen und »im Wirklichen selbst die Idee zu suchen<<. So heißt es in einem seiner Hegel-Epigramme aus dieser Zeit: »Kant und Fichte gern zum Aether schweifen, Suchten dort ein fremdes Land, Doch ich such ' nur tüchtig zu Mgreifen , Was ich - auf der Strq/Je fand.« Durch Freunde in Stralau kommt Marx Mitte 1837 in den sogenannten

Doctorclub, eine Zusammenkunft von Privatdozenten und Studenten, die sich an bestimmten Wochentagen im Cafe »Stehely« am Gendarmenmarkt (heute Platz der Akademie) treffen. Hier werden eigene Arbeiten diskutiert. die verbotenen Bücher von Heine und BOrne gelesen und mit großem Eifer über Hegels Philosophie gestritten. Marx gehörte zu der Gruppe der »linken Hegelianer« um den Privatdozenten Bruno Bauer, die, wie Lenin sagte, »aus der Hegelschen Philo ophie atheistische und revolutionäre Schlußfolgerungen zu ziehen suchten«. Der Doctorclub und der Kreis um die Zeitschrift »Athenäum«, in der Marx seine ersten Gedichte verOffent.lichte, sind über Jahre dje wichtigsten Foren, in denen der junge Marx seine Gedanken darlegen und sich in streitbaren Diskussionen, in der Argumentation und Polemik üben kann. Und hier finden wir auch die erste Verbindung zwischen Karl Marx und Friedrich Engels. Der junge Engels, der im Herbst 1841 zur Ableistung seines Militärdienstes als Einjährig-Freiwilliger nach Berlin kommt. hauptsächlich aber diese Garnison gewählt bat. um als Gasthörer an der Berliner Universität sein philosophisches Wissen zu erweitern, bOrt hier im Frühjahr 1842 zum erstenmal von Karl Marx, der Berlin ein Jahr zuvor verlassen bat. Obwohl der Student Marx wesentlich jünger war als die meisten Mitglie6er des Doctorclubs, ist der »schwane Kerl aus Trier« allen noch in lebhafter Erinnerung. In einem Spottgedicht auf Bruno Bauer, der darin als wilder Robespierre dabinjagt. kommt auch der junge Marxvor, wie Engels ihn sieb nach den Berichten der Freunde vorstellte: » Wer jaget hinterdrein mit wildem Ungestüm ? Ein schwarzer Kerl aus Trier, ein marlc.haft Ungetüm. Er gehet, hüpfet nicht, er springet auf den Hacken , Und raset voller Wut, und gleich, als wollt' er packnr, Das weite Himmelszelt, und zu der Erde ziehen, ... « Marx' engster Freund aus der Studentenzeit. Friedrich Koppen, nannte ihn »ein Magazin von Gedanken, ein Arbeitshaus, oder um berlinisch zu reden, ein Ochsenkopf von Ideen«. (Ochsenkopf hieß im Volksmund das Arbeitshaus am Alexanderplatz, das ehemalige Haus des Berliner Schlächtergewerbes.) Die Berliner Jahre haben Marx und Engels entscheidend geprägt, doch »seinen Anschauungen nach«, schrieb Lenin, »war Marx zu dieser Zeit noch Hegelianer und Idealist«, und für Engels gilt das gleiche. Aber die Zeit in Berlin war für beide eine, vermutlich 4ie entscheidende VorNBI 1987

SEITE 62





Engels in Berlin stufe in der Ausarbeitung des wissenschaftlichen Kommunismus. Hier entdeckten sie im Studium der klassischen deutschen Philosophie eine der drei geistigen Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts, die neben der klassischen englischen Ökonomie und dem französischen Sozialismus zu den Quellen des Marxjsmus wurde. SCHLÜSSEL ZUM ENTWICKLUNGSGESETZ DER GESCHICHTE

In Hegels Methode des Denkens, der Dialektjk, fand Marx, wie Engels schrieb, »die ganze natürliche, geschichtliche und geistige Welt als ein Prozeß, d. h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen, dargestellt«. Die Verbindung dieser Entwicklungslehre mit dem Materialismus befähigte Marx, gemeinsam mit Engels, zu. seiner weltverändemden wissenschaftlichen Leistung: der Entdeckung des Entwicklungsgesetzes der menschlichen Geschichte, wonach »die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen

Am jetzigen Sitz der Akademie der Künste der DDR in der HermannMatem-Straße wird daran erinnert, daß Karl Marx 1838/ 39 in diesem Haus - damals Louisenstraße 45a wohnte.

Gedenktafel an der heutigen Friedrich-Engels-Kaserne der Nationalen Volksarmee, in der 1841 der Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus seinen Militärdienst leistete NBI 1987

und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können«, zu der Erkenntnis, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt und nicht umgekehrt. Marx und Engels sind später noch mehrmals nach Berlin gekommen, ohne daß ihnen die Stadt ans Herz gewachsen wäre, was wohl mehr den gesellschaftlichen Verhältnissen in der preußischen Residenz geschuldet ist als den Berlinern. 1848 war Marx einige Tage hier, um Geldgeber für die in Köln erscheinende »Neue Rheinische Zeitung« zu suchen. Doch nur von den in Berlin lebenden polnischen Emigranten konnte er eine größere Summe bekommen. Im Frühjahr 1861 wohnte Marx mehrere Wochen bei Ferdinand Lassalle in der Bellevuestraße, um seine preußische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen, die ihm nach 1848 aberkannt worden war, und um die Herausgabe einer sozialistischen Zeitschrift zu prüfen, die in Berlin erscheinen sollte, »so widrig mir persönlich der Platz ist«. Den Ton, der in Berlin herrschte, fand Marx frech und frivol. In seinen Briefen nennt er die Stadt eine »Metropole von Tschakos ohne Köpfe«, eine »Sahara« ... Er hatte in diesen Wochen den Kopf voller Sorgen, sein Leberleiden machte ihm zu schaffen, und auch mit der Einbürgerung ging es nicht voran. Sie scheiterte schließlich, und so auch das Projekt mit der Zeitung. Noch einmal 1874 besucht er die Stadt auf der Durchreise von Karlsbad, um seinen Schwager Edgar von Westphalen zu treffen. Er muß unter falschem Namen reisen, um der preußischen Polizei zu entkommen. So stand auch Marx' letzter Besuch in Berlin unter keinem guten Stern und weckte nicht den Wunsch in ihm, die Stadt noch einmal wiederzusehen, in der vier Jahre später das Sozialistengcsetz ausgerufen wurde. Auch Engels' Verhältnis zu Berlin war zeitlebens nicht ungetrübt, nicht frei von Spott und Ironie, die oft bis zum Sarkasmus ging. Selbst im Alter, schrieb er, spürte er noch den Sand zwischen den Zähnen, wenn er das Wort Berlin hörte, und der Berliner Dialekt weckte in ihm immer die Erinnerung an den schnoddrigen Ton der preußischen Leutnants, den er beim Exerzieren auf dem Grützmachcr, wo heute das Stadion der Weltjugend steht, bis zum Überdruß hören mußte. Minna Kautsky schreibt er 1885 : »Apropos Berlin. Ich freue mich, daß es diesem Unglücksnest endlich gelingt, Weltstadt zu werden. Aber schon Rahe! Vamhagcn sagte vor siebzig Jahren : In Berlin wird alles ruppig, und so scheint Berlin der Welt zeigen zu wollen, wie ruppig

Von Manfred Gebhardt eine Weltstadt sein kann. Vergiften Sie alle jcbildctcn Berliner und zaubern Sie eine wenigstens erträgliche Umgebung dorthin, und bauen Sie das ganze Nest von oben bis unten um, dann kann vielleicht noch was Anständiges draus werden. So lange aber der Dialekt da gesprochen wird, schwerlich.« »HIER IST DER SCHWERPUNKT DER ARBEITERBEWEGUNG«

Erst einundfünfzig Jahre nach seinem ersten Aufenthalt, im September 1893, kommt Engels auf Einladung der deutschen Sozialdemokratie wieder nach Berlin, wo ihm ein begeisterter Empfang bereitet wird. Am 22. September findet ihm zu Ehren eine Festveranstaltung in den Concordiasälcn in der Andrcasstraßc statt, an der 4000 Berliner Sozialdemokraten teilnehmen. Diese Veranstaltung ist für den Drciundsicbzigjährigcn ein beglückendes Erlebnis, er sieht, daß die von Marx und ihm in Jahrzehnten ausgearbeitete Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus die Massen ergriffen hat und zur materiellen Gewalt wurde. Er findet Berlin vollständig umgewandelt. Die kleine Residenzstadt, die er 1842 verlassen hatte, ist zu einer großen Hauptstadt mit fast zwei Millionen Einwohnern geworden, die von der Industrie lebt. Die sprunghafte industrielle Entwicklung Berlins hat eine mächtige Arbeiterklasse hervorgebracht. Bei den Reichstagswahlen im Juni 1893 erreichte die Berliner Sozialdemokratie fast 160 000 Stimmen und gewann fünf Sitze von insgesamt sechs. »In dieser Beziehung«, sagt Engels auf der Kundgebung, »steht Berlin an der Spitze aller europäischen Großstädte und hat selbst Paris weit überflügelt.« An Marx' Tochter Laura Lafargue schreibt er Ende September 1893: »Du kannst mir glauben, daß es ein Vergnügen war, diese Menschen zu sehen und zu hören .... Wenn man unter diese Menschen kommt, die deutsch sprechen - und das einheitliche Ziel, die ausgezeichnete Organisation sieht, die Begeisterung erlebt, den unverwüstlichen Humor, der aus der Siegesgewißheit quillt, muß man mitgerissen werden und sagen: Hier ist der Schwerpunkt der Arbeiterbewegung.« Heute erinnert das Marx-EngelsDenkmal im Zentrum Berlins nicht nur an den Aufenthalt der beiden größten Söhne unseres Volkes als lernende in dieser Stadt. Es bezeugt zugleich die Veränderung dieser Stadt - durch ihre Lehren.

Theorie und politischer Kampf

lil&JMllil

r

~

,.„

~lflllxl~tiltll 1

1

-

~ritbri4

f119trs..

--·-

......... .,,....,......

~„

ft'

k_---·--~

1.llBBlEBI

Von oben nach unten: Das erste sozialistische Abrüstungsprogramm, Engels Artikelserie •Kann Europa abrüsten«, erschien 1893 zunächst im Berliner •Vondrts• /Einladung zur Veranstaltung mit Friedrich Engels in den Concordia-Festsilen 1893 I Medaille zur Erinnerung an die Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890

Zeichnung S . 60/ 61: Harald Larisch SEITE 63

Panorama HOTELNEUBAU

HANDWERK

Vom Panoptikum zum Grand-Hotel

Welche Wurst wie würzen?

Schon im vorigen Jahrhundert zählte sie zu den beliebtesten Berliner Ecken: Die Kreuzung Unter den Linden/ Friedrichstraße. Auf alten Fotografien siebt man dort ein dichtes Gewimmel von Pferdedroschken (später Omnibussen), von Schutzleuten mit Pickelhauben und flanierenden Passanten. Da gab es neben Hotels die berühmten Cafes »Bauer« und »Kranzier«, in denen sieb die sogenannte elegante Welt traf. Schließlich bohrte sich auch die 1873 eröffnete

Unter den Linden Ecke Friedrichstraße vor 1900: Wo damals Cafe Bauer war, steht heute das Lindencorso

Am Modell: Prof. Erhardt Gißke, Architektin Solweig Steller

Behrenstraße Ecke Friedrichstraße 1879: damals Eingang zur Kaisergalerie .. .

Nein, Stierkampf ist nicht angesagt, schon gar nicht hier in der ruhigen Wolliner Straße nördlich des Berliner Stadtzentrums. Vielmehr verweist das Zunftzeichen des Ochsenkopfes über den beiden geschränkten Beilen auf jenes alte Handwerk, dessen Vertreter einst »Fleischhauer<< hießen - damals, als noch der offene Marktstand Arbeitsplatz war. Damit bat Fleischermeister Siegfried Kaysers einladendes Geschäft nebst Handwerksbetrieb nichts mehr gemein außer dem neu angefertigten attraktiven Zeichen. Die gesamte Wohngegend um den Arkonaplatz kennt sich ja selbst kaum wieder, nachdem sie während der siebziger und beginnenden achtziger Jahre in einer bis dahin beispiellosen, genau koordinierten Bauaktion komplex rekonstruiert wurde. Einstige Proletarierquartiere - mehr muß man zur Charakterisierung der total komfortlosen Hinterlassenschaft des Kapitalismus nicht sagen - sind nun wirklich Wohnungen. Und auch in der Fleischerei K.ayser verbesserten sich seither die Arbeitsbedingungen dermaßen, daß das jetzt 52 Jahre lang von Familienhand geführte Geschäft die Versorgungsleistungen um fast 30 Prozent erhöhen konnte.

prunkvolle »Kaisergalerie« zur Bebrenstraße durch die Häuser. In dieser Passage gab es neben Läden, Reisebüros und Lokalitäten bald auch das berühmte Panoptikum. Buntes Treiben prägt auch heute wieder das Bild der berühmten Straßenkreuzung. Nach der Eröffnung des Grandhotels dürfte dies erst recht gelten. Mit der Errichtung dieses neuen Hotels wurde der ständig steigenden Zahl internationaler Gäste unserer Stadt Rechnung getragen. Viele der gastronomischen Einrichtungen des Hauses werden allerdings nicht nur Hotelgästen vorbehalten sein. Das betrifft den Bierpub im holzgetäfelten englischen Stil, das Spezialitätenrestaurant und das Konzertcafe, das in Anlehnung an das alte »Cafe Bauer« konzipiert ist. Und das gilt auch für die künftigen Boutiquen in der Behrenstraße.

Dabei haben der Meister und seine Mitarbeiter dem kritischen Geschmack ihrer täglich rund 1000 Stammkunden standzuhalten. Ältere Käufer bevorzugen mild gewürzte Wurst, jüngere halten sieb gern an eine Pfeffersalami, die zu den teils selbsterdachten Kayserschen Spezialitäten gehört. Siegfried Kayser, Freund etwas schärferer Sorten und unlängst anläßlich einer Urlaubsreise sehr ausdauernd beim Erjagen einer ungarischen Wurstrezeptur, bet1rteilt das realistisch: Ihre jeweiligen Vorlieben müsse er den Kunden schon lassen; seine Sache sei es, sich mit vielseitigem Sortiment auf alle einzustellen. Der 50jährige Meister und stellvertretende Vorsitzende der Einkaufs- und Liefergenossenschaft des Fleischerhandwerks Berlin (Geschäftszeichen : zwei Bockwürste umspannen den Fernsehturm) verweist stolz darauf, daß sein Beruf hierorts ähnlich lange urkundlich bezeugt ist wie die Existenz der ganzen Stadt - seit 1311 ! Was Berlins Fleischer durch annähernd sieben Jahrhunderte hindurch geleistet haben, half er in einer gemeinsam mit zwei Berufskollegen verfaßten historischen Skizze festzuhalten. Die kleine Schrift entstand aus demselben Beweggrund, den Siegfried Kayser, Mitglied des DDR-Komitees zum 750jährigen Bestehen von Berlin, für all seine Tätigkeit nennt : »Freude an der Arbeit.«

... heute Eingang zum Grand Hotel: Behrenstraße Ecke Friedrichstraße heute

Der Hotelneubau - Teil der Gesamtrekonstruktion der Friedrichstraße - lehnt sieb an die für Berlin typische Karree-Bebauung an. Als Kristallisationspunkt im Inneren wird sich die geräumige Hotellobby (mit Hallenbar) erweisen, die - mit einer großen Glaskugel überdacht - viele Flure aufnimmt. Die technischen Systeme des Hauses weisen internationa-

les Spitzenniveau auf, sind doch die Erkenntnisse und Erfahrungen der japanischen Kajima-Corporation, der schwedischen Baufirma SIAB sowie von 50 DDR-Betrieben in den Bau eingeflossen. Die Projekterarbeitung erfolgte in enger Kooperation mit der Baudirektion Berlin (Leitung Prof. E. Gißke), dem Büro für Städtebau sowie der Vereinigung Interhotel.

Ständig steigende Versorgungsleistungen: F1eischermeister Siegfried Kayser NBI 1987

SEITE 64





Panorama GEDENKSTÄTIE

Zu Ehrender KPD-Begründer In ihrem Tagesrapport vom 17. Januar 1935 meldete die Gestapoleitstelle Berlin die Festnahme der Bauarbeiter Karl Otto und Xaver Steidle auf dem Friedhof in Friedrichsfelde. Die beiden Antifaschisten hatten versucht, was dem jungen japanischen Journalisten Etsuji Sumiya wenig später unbemerkt gelang: zu fotografieren, wie

kommunistischen Magistrat - die revolutionären Berliner Arbeiter ihre von der Reaktion ermordeten Vorkämpfer beigesetzt hatten. Ludwig Mies van der Robe, 1930 bis 1933 Direktor des Bauhauses in Dessau, später von den Faschisten ins Exil gezwungen, bekannte noch als ?!jähriger 1957 vor dem McCarthy-»Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Betätigung«, daß er »verdammt stolz darauf<< ist, dieses Denlcmal geschaffen zu haben.

SPORTIRADITION

Jahn und Fichte aufdem Exer

Im Mittelpunkt der heutigen Gedenkstätte: der 20 Tonnen schwere Porphyrstein.

Beste Berliner Tradition: Januardemonstration zu Ehren von Karl und Rosa

braune Leichenfledderer die Gräber von Karl Lieblcnecht und Rosa Luxemburg umwühlten und das vom weltbekannten Architekten Mies van der Rohe geschaffene Ehrenmal für die Begründer der Kommunistischen Partei Deutschlands zerstörten. Durch Arbeitergroschen und Spenden progressiver Künstler wie Käthe Kollwitz finanziert, von der »Bauhütte«, einer Genossenschaft organisierter Bauarbeiter errichtet. war dieses erste deutsche Revolutionsdenkmal im Juni 1926 von Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck enthüllt worden. Das zwölf Meter lange, etwa sechs Meter hohe Monument aus dunklen Hartbrandlc.Jinkern erhob sich an der Stelle im hinteren Teil des Friedhofes, wo 1919 - nach langen Auseinandersetzungen mit einem antiNBI 1987

So wie von 1927 bis 1933 ist auch seit 1946 wieder Friedrichsfelde alljährlich im Januar Ziel machtvoller, zu bester Berliner Tradition gewordener Demonstrationen. Auf Anregung Wilhelm Piecks wurde nach der Befreiung vom Faschismus hier - nun im vorderen Teil des Friedhofes - die neue Gedenkstätte der Sozialisten geschaffen und von ihm als erstem deutschen Arbeiterpräsidenten 1951 eingeweiht. Im Jubiläumsjahr Berlins schritten über 200 000 an Porphyrstein und Tribüne vorüber. Die DDR, unsere sozialistische Gesellschaft - so Hermann Axen in seiner Ge- · denkrede -, »das ist das schönste Denkmal für die Märtyrer des proletarischen Befreiungskampfes«.

Januar 1930: RFB-Abordnung am Revolutionsdenkmal Mies van der Rohes

1825 war das sandige Gelände bei der einsamen Pappel an das preußische Militär verkauft worden. Von nun an exerzierten dort Rekruten. Der Spitzname » Exern ist dem heutigen Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark an der Cantianstraße treu geblieben. Doch auch progressive Traditionen sind mit diesem Gelände verbunden : Am 26. März 1848 hatten sich dort 20 000 Berliner zu einer öffentlichen Versammlung eingefunden und soziale und politische Forderungen gestellt. Ab 1912 war der »Exer« als Schulsportplatz und von Arbeitersportvereinen genutzt worden. 1951

Werner Seelenbinder, von den Faschisten ermordeter Arbeitersport/er

Jahrhundertwende zahlreiche Arbeitersportvereine darunter 1890 der ArbeiterTurn-Verein Fichte, Berlin. Mit der Polarisierung der Klassenkräfte in der Zeit der Weimarer Republik wurde 1931 auf Initiative der KPD der Zentrale Arbeitersport-

Nach 1912: Arbeitersport/er auf dem » Exer((

entstand dort durch den Einsatz Tausender freiwilliger Helfer anläßlich der 3. Weltfestspiele ein neues Stadion, dem später der Name Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark verlieben wurde. Seit 1974 gibt es dort auch das Sporthistorische Kabinett des Bezirksvorstandes Berlin des DTSB. Es erteilt Auskunft über 175 Jahre progressive Berliner Sporttraditionen. Seine Mitarbeiter sind ehemalige Arbeitersportler. In diesem Kabinett findet man u. a. Darstellungen des ersten Turnplatzes auf der Berliner Hasenheide, den 1811 deutsche Patrioten unter Jahns Führung schufen. Als Gegengewicht zur späteren elitären und ins chauvinistische Fahrwasser abgleitenden bürgerlichen Sportbewegung entstanden vor der

verein »Fichte<< als größte damalige deutsche Sportvereinigung gegründet. Mit wirtschaftlichen Schikanen sowie mit dem Verbot, städtische Sportstätten und Grundstücke zu nutzen, antwortete die bürgerliche Republik. Nach Hitlers Machtantritt wurden dann sämtliche Arbeitersportvereine verboten, ihre Kassen und Sportstätten beschlagnahmt, viele ihrer Funktionäre ins KZ geworfen oder umgebracht. Das Sporthistorische Kabinett und seine Mitarbeiter wollen die Erinnerung daran wachhalten, berichten von den progressiven Traditionen und dokumentieren den Aufbau einer sozialistischen Körperkultur bis hin zu den jüngsten Erfolgen Berliner Sportler bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften. SEITE 65



Panorama BADESIITEN

Bei Herren mindestens die Oberschenkel ... Schon im Mittelalter pflegte man den Brauch des geselligen Badens. Später ließ das nach: man puderte sich lieber. Im Jahre 1803 allerdings machte als erste öffentliche Badeanstalt Berlins und »weltstädtische Einmaligkeit« nahe der heutigen Rathausbrücke das » Welpersche Badehaus« auf sich aufmerksam : Ein Badeschiff, auf dem Begüterte unter Aufsicht das ganze Jahr über warm und kalt baden konnten. Die Aufsicht war wichtig, denn in Berlin bestand, um Badeunfälle sowie »Sittenlosigkeit(( zu verhindern, ein polizeiliches Freibadeverbot. Bei Zuwiderhandlung

Kamen im vorigen Jahrhundert auf: Rußbadeanstalten wurde mit Ruten gepeitscht, eine Geldstrafe verhängt oder abgelegte Oberbeldeidung polizeilich konfisziert. Im Laufe des vorigen Jahrhunderts kamen entlang der Spree mehrere städtische Außbadeanstalten hinzu, sogenannte »Magistratsschwemmen((, in denen auch Schwimmunterricht erteilt wurde. Selbstverständlich waren die kurzen Strände nach Geschlechtern unter-

Um /9/2: Strandleben, beobachtet von Zille

teilt. Meterhohe Umbauungen schützten vor unbefugten Blicken. Vor allem wegen der engen und unhygienischen Verhältnisse in den Berliner Mietskasernen forderten dann die Arbeitersport- und -schwimmvereine eine Aufhebung des Badeverbots. Anfang unseres Jahrhunderts mußten schließlich die ersten Uferstreifen, darunter auch am Müggelsee, zum öffentlichen Baden freigegeben werden. Doch Tugendwächter in Pickelhaube und hoch zu Roß kontrollierten streng die Einhaltung der polizeilichen Bekleidungsvorschriften. Der Badeanzug mußte bei Damen Schulter und Leib bedecken und bis zum Knie gehen, bei Herren mindestens die Oberschenkel umhüllen. In dem 1912 am Müggelsee eröffneten Strandbad schuf Zille manche seiner berühmten Zeichnungen. Heute geht es auch dort wesentlich freizügiger zu. Jährlich werden über 200 000 Besucher in dem 12, 1 Hektar großen Strandbad Rahnsdorf gezählt. Auch an den sonstigen Seen von Berlin und Umgebung und auf den Liegewiesen der städtischen Freibäder gilt der Grundsatz: laßt Luft und Sonne ran. Das 1960 nach zweijährigem NA W-Einsatz Tausender freiwilliger Helfer eröffnete Freibad Pankow zählte bisher über zwölf Millionen Besucher.

STERNWARTE

Arcbenbold und die Sterne von Rio Sie ist die größte und älteste Volkssternwarte der DDR: die Archenhold-Sternwarte in Berlin-Treptow. 1896 unter dem Leitgedanken einer »Astronomie für jeder-

... und das neue Zeiss-Planetarium Ernst-Thälmann-Park (Modell) mann« gegründet und eng mit der URANIA-Gesellschaft verbunden, verdankt sie Gründung und Bedeutung ganz wesentlich dem jahrzehntelangen unermüdlichen Wirken eines Mannes: des Astronomen Friedrich Simon Archenhold (1861-1939). Durch die von ihm initiierte Sammelaktion - später auch unterstützt von den Berliner Gewerkschaften - konnte anläßlich der Treptower Gewerbeausstellung im Jahre 1896 das mit einer Brennweite von 21 Meter längste bewegliche Linsenfernrohr der Welt, der sogenannte Große Refraktor, in Betrieb genommen werden. Bis heute ist dieses technische Denkmal das Wahrzeichen der 1946 nach ihrem langjährigen Direktor benannten Sternwarte geblieben. Nach sechsjähriger komplizierter Rekonstruktion durch die Berliner Firma Heinrich wird

Zwölf Freibäder laden zum Bade: FKK-Bereiche dehnen sich aus

das Riesenfernrohr seit 1983 auch wieder für Demonstrationsvorführungen genutzt. Heutiger Direktor der Archenhold-Sternwarte ist Prof. Dr. Dieter B. Herrmann. Mit populären Vorträgen, unter anderem über die schönsten Sternsagen der Griechen, hat sich die Archenhold-Sternwarte einen

festen Platz im Kulturangebot der Hauptstadt gesichert. Die nach dem Kriege unter Leitung von Prof. D . Wattenberg mühsam wiederhergestellte Sternwarte verfügt heute auch über eine Sammlung von Meteoriten und historischen astronomischen Geräten, ein Planetarium, den astronomischen Garten sowie eine Schulstation für praktische Übungen innerhalb des Astronomieunterrichtes. Ganz neue astronomische Perspektiven eröffnet - und das wiederum für jedermann - das künftige Zeiss-Großplanetarium im Ernst-Thälmann-Park. An die Decke der Kuppel dieses hochmodernen Planetariums kann der Sternenhimmel aus den verschiedensten Sichten projiziert werden. So wird man in Berlin erleben können, wie die Sterne über Rio leuchten oder wie sie sich vom Raumschiff aus darstellen. NBI 1987

SEITE 66





Panorama MÜNZWESEN

Wo die Prägestempel stampfen Das Berliner Münzwesen kann auf ein stattliches Alter zurückblicken : 1980 beging man das Jubiläum »700 Jahre Münzprägung in Berlin((. Natürlich wurde dazu eine Gedenkmünze herausgegeben. Sie zeigt einen 1369 geprägten sogenannten »Ewigen Pfennigcc. Die ältesten in Berlin herausgegebenen Münzeinheiten allerdings waren Denar und Schilling. Der erste Sitz einer Münze lag in der heutigen Klosterstraße. Später befanden sich Münzprägungsstätten u. a. im Berliner Schloß, in der Unterwasserstraße, Münzstraße und am Werderschen Markt. Die im Jahre 1800 erbaute, doch schon 1886 wieder abgerissene Königliche Münze erhielt einen 36 Meter langen Relieffries nach Entwürfen von Friedrich Gilly und Johann Gottfried Schadow. Er stellt in antikisierender Form die Arbeitsgänge der Münzprägung dar. Man kann ihn - als Kopie noch heute bewundern : an der Außenfront der in den 30er Jahren errichteten Reichsmünze am Molkenmarkt. Heute teilen sich dieses Gebäude das Kulturministerium der DDR und der VEB Münze der DDR. Gegenüber steht das neu er-

richtete Ephraimpalais. Auch das ist mit Münzgeschichte verbunden. Der Fabrikant, Bankier und Hofjuwelier Veitel Ephraim ließ es einst bauen, und man nannte es bald »die schönste Ecke Berlinscc. Ephraim hatte von Friedrich II. alle preußischen Münzstätten gepachtet. Durch Herabsetzung des Edelmetallgehaltes - wahrscheinlich im Auftrage, zumindest jedoch mit Duldung des Königs - half er, die preußischen Staatsfinanzen aufzubessern. Derartige

1980 geprägt: Ewiger Pfennig

BIOGRAPHIE

Das gute alte Wort »Geschichtsschreibung« Sie hat die erste Seite eines international stark beachteten Buches für sich : Dr. Waltraud Engelberg. »Meiner lieben Frau, der selbstlosen Mitarbeiterin((, schrieb Prof. Dr. Ernst Engelberg an den Anfang seines fundamentalen 855-Seiten-Werkes »Bismarck - Urpreuße und Reichsgründercc (AkademieVerlag Berlin). Ein schönes,

Urpreuße und Reichsgründer: Bismarck

Gemeinsame Arbeit an Bismarck-Biographie: Autor Prof. Dr. Ernst Engelberg und seine Frau Dr. Waltraud Engelberg

1800 eröffnet: Königliche Münze am Werderschen Markt

Aus dem Schadow-Fries: Arbeitsgang der Münzherstellung NBI 1987

Münzverschlechterung war allerdings nichts Ungewöhnliches. Mit dem »Kippen und Wippen(( (der Waage beim betrügerischen Umtausch edelmetallreicher gegen edelmetallarme Münzen) hatte mancher Geldhändler schon im 17. Jahrhundert seinen Schnitt gemacht. Nach 1871 bis zum ersten Weltkrieg nahm die Berliner Münze, die seit 1750 bis heute als Münzzeichen den Buchstaben A trägt. etwa 55 Prozent aller Münzprägungen des Reiches wahr. Ab Sommer 1947 begannen am Molkenmarkt/ Rolandufer die Prägemaschinen wieder zu stampfen. Heute stellt der VEB Münze im Auftrag der Staatsbank der DDR sämtliche Münzen unseres Landes her, überdies Orden, Ehrenzeichen und Medaillen der DDR. Seit 1966 werden jährlich Gedenkmünzen als gesetzliche Zahlungsmittel geprägt, die vor allem bei den Sammlern sehr beliebt sind.

ein herzliches Wort für die Germanistin aus schlesischer Arbeiterfamilie. »Sie begleitete michcc, so ihr Mann nach Jahrzehnten der Verbundenheit auch durch historische Forschung, »in die meisten Archive und arbeitete mit mir Bismarcks Werke durch, so daß ständiger Gedankenaustausch möglich war.cc Außerdem begleitet sie ihn vor die immer interessierte Öffentlichkeit. Der 77jährige Prof. Engelberg spricht über sein lebenslanges Thema (schon der kommunistische Doktorand hatte Anfang der dreißiger Jahre Bismarck zum Gegenstand seiner Dissertation gemacht) in der Berliner URANIA, im Klub der Kulturschaffenden »Johannes R. Bechercc ... »Die Bezeichnung >Erzählwerkc für mein Buch würde ich nicht ablehnen. Man sollte sich auf das gute alte, vielleicht sogar altbacken wirkende Wort >Geschichtsschreibungc besinnen((, betont Professor Engelberg. Die aber schließe Kolorit ein, Menschenschilderung und eine Sicht nicht bloß auf die jeweilige Hauptfigur, sondern zugleich auf deren soziale Verwobenheit und

Umwelt. »Man muß den Mut haben, die Person in den Mittelpunkt zu stellen und von ihr aus die Verbindungslinien finden zu den politisch-ideologischen Entwicklungen der Zeit.(( Daß dies niemals unkritisch geschieht, beweisen die Lektüre des Engelbergschen Buches und - eine manchmal leicht belustigt. häufiger jedoch von ernsthaftem Verdacht diktierte Frage, die sich das Ehepaar oft als Ermunterung zu genauestem Prüfen der Quellen stellte : »Ob Otto da wohl gemogelt hat?cc Ihr ist Prof. Dr. Ernst Engelberg unter anderem nachgegangen in DDR-Archiven, im Zentralen Staatlichen Historischen Archiv der UdSSR, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn und vor al•~m im Nachlaß der Familie Bismarck in Friedrichsruh, BRD. Der Biograph lächelnd und mit Bezug auf den noch zu vollendenden zweiten Band '> Bismarck - Reichskanzler und Widersachercc : »Man muß nicht nur den Kopf anstrengen, sondern obendrein Sitzleder haben.(( Dr. Waltraud Engelberg nickt sehr wissend. SEITE 67

Panorama PIONIERPALAST

BERLINBESUCHER

Junge Historiker und Kosmonauten

Ein Rechtsanwalt in der »Kommode<<

Fünf Stunden Tonbandprotokoll, persönliche Erinnerungen an das Berliner Leben um 1900, liegen schon vor. Daneben: Schulfotos aus jenen Jahren, die Zeichnungen einer heute 93jährigen aus ihrem Zeiehenunterricht 1905, Schulzeugnisse aus der Zeit vor und nach der Novemberrevolution ... Der Fleiß der Arbeitsgemeinschaft »Berliner Heimatgeschichte« im Pionierpalast

Am 14. August 1895 trug sieb als Leser Nummer 11 in der Berliner Königlichen Bibliothek am Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz, ein junger Mann ein : »Rechtsanwalt W1adimir Ulianoff«. Eine Gedenktafel an der Außenwand des im Volksmund wegen seiner äußeren Gestalt »Kommode« genannten Gebäudes sowie das farbig gestaltete Glasfenster im heutigen Lenin-Lesesaal der Humboldt-Universität Berlin erinnern daran. Uljanow, später Lenin genannt, studierte damals vor allem ihm in seiner Heimat nicht zugängliche russische und deutsche historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Lage seiner Heimat sowie »Die heilige Familie« von Karl Marx und Friedrich Engels. Lenins erster Aufenthalt in der Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches war Teil einer Westeuropa-Reise, die ihn auch in die Schweiz und nach Paris führte. Offizieller Grund : um sich von einer eben überstandenen Lungenentzündung zu erholen. Vor allem aber wollte er als Führer der Petersburger marxistischen Arbeiterzirkel Verbindungen zu westeuropäischen Revolutionären knüpfen und die Möglichkeiten eines re-

Kinderalltag heute: Beim Gleichgewichtstest im Kosmonautenzentrum

»Ernst Thälmann« trägt erste Früchte. Im September 1986 unter Leitung von Geschichtslehrer Meinhard Stark gegründet, steht sie jedem Jugendlieben im Alter zwischen 14 und 20 offen, seinen Spaß am Abenteuer Geschichte vorausgesetzt. Die Jungen und Mädchen nehmen das Berlin-Jubiläum zum Anlaß, um sich ausführlich mit den revolutionären Traditionen in ihrer Heimatstadt zu beschäftigen. Sie sehen sich Archivfilme aus der Zeit der Weimarer Republik an, betrachten die Ausstellung über das Berliner Großstadtproletariat, bereiten sich auf das Gespräch mit Berliner Arbeiterveteranen vor, mit dem 78jährigen Hans Thurack zum Beispiel, dessen Leben eng mit dem Prenzlauer Berg verbunden ist. Wann und wo wurde das Arbeiterkind Hans Thurack eingeschult? Hatte es ein

Pausenbrot? Wie war es gekleidet? Wieviel Zeit verblieb ihm zum Spielen? Mußte es vor und nach dem Unterricht wie andere Kinder arbeiten? »So konkret betrachtet, wird Geschichte lebendig und spannend<<, sagt Rene Libske, Schüler der 11 . Klasse der EOS »Albert Einstein«. »Besonders reizvoll ist für mich, daß unsere Arbeit gebraucht wird, das Einmalige der Geschichte eines Menschen im neuen Museum Arbeiterleben um 1900 in der Husemannstraße Platz finden wird.« Andere Arbeitsgemeinschaften des Pionierpalastes »Ernst Thälmann« erforschen den Weg der Sowjetsoldaten, die ihren Stadtbezirk 1945 befreiten. Sie wenden sich der Geschichte Berliner Großbetriebe wie des Kabelwerkes Köpenick zu. Oder sie vertiefen sich in Wissenschaft und Technik.

Der Fliegerkosmonaut Sigmund Jähn weihte mit seinen kosmischen Brüdern Kowaljonok und Iwantschenko das Kosmonautenzentrum ein. Mehr als zwei Millionen Kinder haben den Palast bisher besucht. Und Gäste aus aller Welt formulierten ihre Eindrücke im Ehrenbuch. Eine Delegation aus Japan zeigte sich besonders beeindruckt davon, daß bei uns alle Kinder - unabhängig ihrer sozialen Herkunft - das Recht auf Bildung und freie Entfaltung ihrer Fähigkeiten haben. Und der amerikanische Freiheitskämpfer Ben Chavis schrieb: »Mögen eines Tages alle Kinder der Welt so aufwachsen können wie die Jüngsten dieser Republik.«

einen der Führer der kampferprobten deutschen Sozialdemokratie, zu treffen sowie einer sozialdemokratischen Volksversammlung (in der heutigen Frankfurter Allee 102) beizuwohnen. Noch weitere neunmal weilte Lenin bis 1914zu kurzen Aufenthalten und Besprechungen in Berlin. Seit 1970, dem 100. Geburtstag Lenins, gibt es eine eigene Gedenkstätte »Lenin in Berlin« im Museum für Deutsche Geschichte Unter den Linden. Dort finden die Besucher u. a. eine Nachgestaltung des Arbeitsplatzes Lenins im Großen Lesesaal der Königlichen Bibliothek, eine 1946 von Ruthild Hahne geschaffene Leninbüste sowie Faksimiles wertvoller Dokumente

Das Lenin-Denkmal am gleichnamigen Platz in Berlin

Wo Lenin arbeitete: Die »Kommode« am August-Bebet-Platz

gelmäßigen illegalen Transports revolutionärer Schriften nach Rußland erkunden. »Bis jetzt gefällt mir Berlin. Ich fühle mich sehr wohl«, schrieb er von hier aus seiner Mutter. Den Aufenthalt nutzte er zugleich, eine Aufführung des damals Aufsehen erregenden HauptmannDramas »Die Weber« im Deutschen Theater zu besuchen, Wilhelm Liebknecht,

und Schriften Lenins, die vom Zentralen Lenin-Museum Moskau übergeben wurden. Und schließlich ehrte die Hauptstadt der DDR den großen Revolutionär, indem sie einem neugeschaffenen zentralen Platz sowie der heute mit 11 km zweitlängsten Straße Berlins seinen Namen gab.

NBI 1987

SEITE 68





Panorama SPORT

VERKEHRSGESCHICHTE

Fotovermerk: WoHgang Behrendt

Von Pferden, Dampfrös.wm und Elektrischen

»Leute macht hinne - wir essen zeitig!« Dieser aus gesundem Mutterwitz geborene Satz ist typisch für den agilen kleinen Ur-Berliner. Viele kennen ihn, und der Kreis seiner persönlichen Freunde und Bekannten umschließt inzwischen wohl fünf Kontinente. Als Fotoreporter des »Neuen Deutschland« ist Wolfgang Behrendt viel in der Welt herumgekommen. Er kennt sich auf den Langlaufstrecken am Mount van Hoevenberg in Lake Placid oder im Moskauer LushnikiSportpark genauso aus wie etwa in der Berliner WernerSeelenbinder-Halle oder auf den Rodelpisten in den Müggelbergen. Beim Zusammentreffen mit Sportlern spricht er deren Sprache, denn er ist einer von ihnen - noch immer und ein ganz Besonderer dazu. Am 1. Dezember 1956 bezwang der von Trainer Erich Sonnenberg geführte Berliner Boxer Wolfgang Behrendt im Melbourner Finale des Bantamgewichts den Südkoreaner Soon-Chung Song nach Punkten. Das war die erste von 123 Goldmedaillen, die DDR-Sportler seit 1956 bei Olympischen Sommerspielen erkämpft haben. Seither haben allein Berliner Sportlerinnen und Sportler bei Olympischen Spielen 55mal, bei Weltmeisterschaften l 75mal und bei Europameisterschaften 130mal Gold erobert (Stand 1. Januar 1987).

Heute renommierter SportfotografBildreporter Behrendt

Ulf 1immerman„, Hallenweltmeister im Kugelstoßen

»Das war mein bisher schönstes Erlebnis. Olympiasieger wird man ja nicht alle Tage«, erinnert sich Wolfgang Behrendt an Melboume. Seit diesem unvergessenen Triumph hat er nunmehr als Fotoreporter schon die fünfte Generation von Olympioniken vor seinen Kameras. Und die Skala seiner Begegnungen

Sylvia Gerasch, Weltmeisterin im 100-m-Brustschwimmen

reicht von unserem legendären »Täve« über Alberto Juantorena (Kuba) und Lasse Viren (Finnland) bis zu der für den Berliner Dynamoklub startenden Schwimmweltmeisterin Sylvia Gerasch. Hinsetzen müßte er sich mal und über seine Erlebnisse mit so vielen interessanten Menschen schreiben. Aber dazu erklärt er freundlich lächelnd : »Wir essen zeitig!« Was auf die feine Berliner Art beißt: »Lcida hab ick noch keene Zeit für sowat.«

Erkämpfte die erste olympische Goldmedaille für die DDR: der Berliner Boxsport/er Wolfgang Behrendt NBI 1987

Die Hugenotten führten die Sänfte ein, mit Friedrich 11. kamen die Fiaker, nach den Befreiungskriegen die Droschken. Noch bis in unser Jahrhundert hinein dominierte der »Hafermotor«. Die Pferdeomnibusse, 1840 aufgekommen, wurden zum ersten Massenverkehrsmittel an der Spree im fahrplanmäßigen Linienbetrieb. Ab 1865 rollten als Konk.urenz auf Gleisen verkehrende private Pferdebahnen. 1880 gelangten neue Antriebsarten zum Einsatz. Die erste Dampfstraßenbahn in Berlin mußte allerdings wegen der damit verbundenen Rauch- und Rußbelästigung ihre Fahrten schon nach wenigen Wochen wieder einstellen. Kurz darauf wurde im Vorort Lichterfelde-Ost die erste elektrisch betriebene Straßenbahn der Welt in Dienst gestellt. Werner von Siemens hatte sie entwikkelt. Ab 1904 gab's einen elektrisch angetriebenen Obus als »gleislose Straßenbahn«. Ein Jahr später fuhr der erste Kraftomnibus mit Benzinmotor, auf den alsbald ein großer Ansturm der Berliner einsetzte. Die erste Motortaxe war 1899 aufgetaucht. 1896 war der Spatenstich für den Bau der ersten »Unterpflasterbahn« erfolgt - zunächst auf einem Hochbahnstück. 1902 verkehrte dann die erste U-Bahn auf acht Kilometer Länge. Die längste Einführungsphase hatte die S-Bahn.

Viele solcher Tafeln ...

mo:i

... zur Geschichte ...

. .. des Verkehrs in Berlin .. .

Eine erste Teilstrecke war vor allem wegen der Verlegung der Industrie in die Vororte - bereits 1882 eingeweiht worden. Der Antrieb erfolgte noch mit Dampf. Trotz erfolgreicher Testversuche um 1900 verhinderte die Kohle- und Lokomotivindustrie die technisch mögliche Elektrifizierung bis in die 20er Jahre, unter anderem mit dem Gutachten eines Tierschutzvereins, wonach Luftschiffe und Vögel die elektrifizierten Gebiete wegen Lebensgefahr im Umkreis von 30 Kilometern meiden müßten. Texte: Günther Bel/mann , Bärbel Henniger, Lutz Pretzsch , Klaus Ramm, Fotos: Archiv Märkisches Museum , BV-Archiv, Wolf gang Behrendt, Klaus Fischer, Pierre Guillaume. Eberhard Klöppel, Harald Mohr, Klaus Morgenstern, Lutz Pretzsch, Thomas Sandberg, Hemd H. Sefzik, Uwe Steinberg, ZB/ Ritter, IML,privat

... schmücken heute den U-Bahnhof Klosterstraße SEITE 69



Mitten im

Ein Beitrag von Helgard Behrendt mit Fotos von Eberhard Klöppel Der Hintergnmd: EIN RIESENAUFWAND

Zwei Kilometer lang ist die Berliner Wilhelm-Pieck-Straße - pulsierende Magistrale, nördlicher Abschluß des Stadtzentrums. Zur Zeit erlebt sie wie viele andere Straßen der Hauptstadt - ein Wunder der Verwandlung. Mit zahlreichen Nebenstraßen, mit den Hinterhöfen und Seitenflügeln wird sie von Grund auf saniert. NBI 19,87

Bauleute aus vielen Bezirken sind daran beteiligt. Der ·exakten Organisation wegen sind sie einzelnen Abschnitten der Straße zugeordnet. Am östlichen - zwischen Gormannstraße und der allseits bekannten Schönhauser Allee - ist der Standort Frankfurt (Oder). Da ist beispielsweise das Haus Lottumstraße 16, wie die meisten Gebäude hier um die hundert Jahre alt. Die Mieter sind ausgezogen. Aus gutem Grund, denn

damit hier wieder Grund reinkommt, muß buchstäblich alles - bis auf die Mauem - erneuert werden : das Dach, die Decken und die Fußböden, die Fenster und die Öfen. die Elektro- und die Sanitärleitungen. Der Schwamm ist zu bekämpfen. Zusätzlich wird ein Stockwerk mit zwei Wohnungen aufgebracht. Ein riesiger Aufwand, körperlich anstrengende und schwere Arbeit ist zu leisten. Staub, Kälte und Hitze machen

den Bauleuten zu schaffen. Allein aus diesem Haus haben sie 100 m3 Schutt abtransportiert. In den ersten drei Jahren ihres Einsatzes konnten die Frankfurter hier bereits 625 Wohnungen in solchen vom Fundament bis zum Dach sanierten Häusern an die Familien übergeben. Pro Jahr stehen für die Truppe von 180 Mann 200 erneuerte Wohnungen zu Buche. Fortsetzung auf Seite 74 SEITE 71



BERLIN IN DATEN Über 25 ()()() Werktätige aus allen Bezirken der DDR, darunter mehr als 20 ()()() Jugendliche der FDJ-Initiative Berlin. leisten bei der Gestaltung der Hauptstadt einen hervorragenden Beitrag. Es wirken bzw. wirklen u. a. mit: die Bezirke Erfurt, Gera, Karl-Marx-Stadt, Potsdam, Cottbus, Leipzig und Dresden am Emst-Thälmann-Park, Magdeburg am Bersarinplatz, Suhl am Palisadendreieck, Frankfurt (Oder) am Amimplatz, Schwerin , Rostock und Neubrandenburg in Hohenschönhausen , Halle und Gera in Marzahn-West, Erfurt in der Köllnischen Vorstadt (Köpenick). Im Jubiläumsjahr werden in U Bezirksjugendobjekten 16()() Wohnungen , in 10 Kreisjugendobjekten des Berliner Bauwesens 1776 Wohnungen modernisiert.

Sehnsüchtig hatten die Bewohner daraufgewaltet, da8 auch der neue grolle Hof fertig wird. Fortsetzung von Seite 71 Die Geschichte: DER KONTAKT WIRD GEKNÜPFT

Eines Tages fegt die Rentnerin Elisabeth Rambalski in der Cbristinenstraße den Bürgersteig vor ihrer Haustür. Gerade kommt ein Trupp Bauarbeiter vorbei. »Na Oma, bei euch gibt's wohl keine Männer im Haus«, meint einer, ergreift den Besen und erledigt die Arbeit im Handumdrehen. Ein Wort ergibt das andere. Der Kontakt ist geknüpft. Mal brauchen »die Jungs« ein paar Tassen, mal möchte einer seine Hose gebügelt haben, weil er zur Disko will. Dann sitzt man schon mal gemütlich beisammen, und bald wird es zur Gewohnheit, einmal in der Woche in einer Gaststätte gemeinsam ein Bier zu trinken. »Da haben se mir denn bekniet, det ick eenen sollte uffnehmen<<, erzählt Mutter Rambalski. »Wo ick nie im Leben vermieten wollte. Aber det Zimmer stand ja leer, und ick hab se ja nun schon jekannt. Da konnte ick sc mir eben aussuchen.«

So zogen also »mein Kurtcben« und »mein Manfred« bei Lieschen Rambalski ein. Bald danach war das Haus mit dem Sanieren an der Reihe. »'ne Neubauwohnung ham se mir anjeboten. Nich für tausend Mark hätte ick die jenommen. Ick wollte zurück in mein Kiez. Und Kurtchen sagte: Ick lasse Lieschen nich alleene. So sind wa zusammen in die Ausweichwohnung jezogen, und beede Male hat die janze Truppe beim Umzug jeholfen.« Einschnitte: BLEIBEN ODER NICHT BLEIBEN ?

Aus dem Scherz im Vorübergeben ist eine herzliche und nun schon fast vier Jahre dauernde Freundschaft geworden. »Ums Kohlenholen brauche ick mir nicht zu sorgen«, sagt Frau Rambalski. »Wenn ick verreise, schaffen se mir den Koffer zum Bahnhof. Und als ick mir beim Besuch bei meinem Kurtchen in Schwedt die neue Schrankwand ausjesucht hatte, sagten se : Lieschen, mach dir keen Kopp, wir erledigen det schon.«

Leider, so sagt sie, übersiedelte ihr Kurtchen zur Arbeit an die Erdgastrasse in die Sowjetunion. Aus der Gegend von Perm ist bereits Post eingetroffen. Gemeinsam mit seiner Frau hat er sich dort schon gut eingelebt. Nun ist der junge Wolfgang Zimmerriemer aus Angermünde bei Mutter Rambalski eingezogen, ebenso wie sein Freund Falk Stockfisch aus Schwedt Schlosser von Beruf und ebenso wie dieser fest entschlossen, seine Zukunft in der Hauptstadt zu suchen. » Een Mädel hat der Falk schon jefunden«, sagt Frau Rambalski und blickt liebevoll auf den hübschen Blondschopf. » Nun warten wir auf det Brigadebaby.« Anders sehen die älteren Kollegen die Dinge, wenn sie wieder mal an Lieschens Kaffeetisch sitzen und über Gott und die Welt reden. Der SOjährige Kraftfahrer Rudi Schmidt etwa, der auf jeden Fall in Schwedt wohnen bleiben möchte. weil er dort an seiner Wohnung und an seinem Garten hängt und mit seiner Frau noch seine beiden Enkelkinder großzieht. Oder der 44jährige Brigadier Peter Fischer: »Ich bin zwar ledig,

aber ich habe in Schwedt meine Neubauwohnung, außerdeß\ die alten Kumpels. Wir haben dort schon die Stadt wachsen sehen, da fühlt man sich eben verbunden.« Zur Brigade Technik zählen insgesamt acht Mann. Sie steuern alle Fahrzeuge, die hier auf dem Bau eingesetzt sind - vom Bagger bis zum Trecker. Und sie leisten die Reparaturen, die dabei anfallen. Sie sind es gewohnt, sich den vielfältigen Problemen zu stellen, die die komplizierten Arbeiten in der Rekonstruktion mit sich bringen. Wenn es notwendig ist, hängen sie Überstunden an oder machen mal ein .Wochenende durch. »Hier muß man häufig auch improvisieren können.<< Erinnerung: DREIZEHN GESCHWISTER

»Auf meine alten Tage mache ick mir ein schönes Leben«, sagt Mutter Rambalski. »Jetzt hab ick die herrliche Wohnung mit Bad - und allet neu einjerichtet. Eenmal in de Woche jeb ick ins Freizeitzentrum schwimmen. Außerdem hab ick nich nur die Jungs hier, sondern noch die NBI 1987

SEITE 74



„ vielen anderen Kollegen aus meinem alten Betrieb. Öfter verreise ick vom FDGB, jerade bin ick von Stollberg im Harz zurüclcjekommen. Kinder, hätte man sich det früher allet mal träumen lassen?« Wenn Lieschen Rambalski aus ihrem Leben erzählt, wird es mucksmäuschenstill am Tisch. »Dreizehn Jeschwister warn wa, icke die fünfte oder sechste. Vadder war Malenneester. Jewohnt ham wa in anderthalb Zimmern, jeschlafen zu zweet oder zu dritt in een Bett. Später, als Vadder arbeitslos war, stiegen wa ab in ne Kellerbehausung. Butter ham wa nich jekannt, wenns hoch kam, jabs eenmal Aeisch inne Woche. Seit 1920 war Vadder KPD ... « Geschichtliches: TYPISCH »MIETSKASERNE«

Die Kindheit der Elisabeth Rambalski fiel in die »goldenen« zwanziger Jahre. Allein im Stadtbezirk Prenzlauer Berg lebten damals an die 300 000 Menschen - die Proletarier in den miesesten Behausungen, den »Mietskasernen«, mit ähnlichem Schicksal wie ihrem. Die Lebenserwartung betrug bei den Männern durchschnittlich 24,3 Jahre, bei den Frauen 27,/J Jahre - bedingt durch eine hohe Säuglingssterblichkeit, durch die schweren Arbeitsbedigungen, durch gefürchtete Krankheiten wie die lbc. (Heute rechnen wir bei den Männern mit 70, bei den Frauen mit 75 Lebensjahren.) Es ist interessant, daß gerade im Viertel um die heutige WilhelmPieck-Straße jene stürmische Entwicklung begonnen hatte, die Berlin in kurzer Zeit von der Residenz- zur Industrie- und Arbeiterstadt wandelte. In unmittelbarer Nähe - in der Chausseestraße - wurden Mitte des vorigen Jahrhunderts die ersten großen Industriebetriebe gegründet. Hier baute Borsig 1840 seine erste Lokomotive, hier siedelten sich so bekannte Finnen wie Wöhlert, Hoppe oder SchwarzkopfT an. Massenhaft kamen die Arbeitskräfte vom Lande in die Stadt. Massenhaft wuchsen die Wohnblocks aus der Erde. Bis zu 68 Prozent aller erwerbsfähigen Berliner waren in den Spitzenzeiten im Baugewerbe tätig. Mit dem Bebauungsplan von 1862 wurden auch die Lottum-, Angermünder-, Christinen- und viele andere Straßen trassiert und bald danach bebaut. Es ist nicht zu verkennen, daß die Übersiedlung für die erste Generation der Zuwanderer zunächst einen relativen Fortschritt brachte. Sie kamen weg von den patriarchalischen Verhältnissen beim Handwerksmeister oder dem Bauern. Sie hielten zum ersten Mal Geld in der Hand, hatten eine geregelte Arbeitszeit, eine eigene Wohnung mit fließendem Wasser, mit Gasanschluß usw. Doch rasch wurden die Verhältnisse für Hunderttausende unerträglich. Mietshäuser wurden nicht mehr für einen bestimmten Nutzer und in dessen Auftrag geNBI 1987

baut, sondern als Massenprodukt für den Markt. Die Bodenpreise stiegen und stiegen. Stets war die Nachfrage nach Wohnungen größer als das Angebot. Im gleichen Maße wie die Mietpreise kletterten, nahm die Anzahl der billigen Wohnungen ab. In den Jahren zwischen 1902 und 1914 standen dem durchschnittlichen Wochenlohn eines Arbeiters von 26,90 Mark Lebenshaltungskosten für eine vierköpfige Familie von 28,90 Mark gegenüber. Das Existenzminimum überschritt also bereits den Verdienst. Auch deshalb lebten Arbeiterfamilien in überbelegten Wohnungen und hatten dazu meist noch einen Schlafburschen. Ein Viertel bis ein fünftel ihres Monatslohnes mußten sie aufbringen, um eine KücheStube-Wohnung zu mieten. Übrigens : Elisabeth Rambalski zahlt heute nach der Rekonstruktion ihrer Drei-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung wie zuvor 64 Mark Miete. Wohnungspolitik: ZUM WOHLFÜHLEN

Sehnsüchtig hatte Elisabeth Rambalski auch darauf gewartet, daß der schöne große Hof in ihrem Karree fertig wurde : Hinterhäuser und Seitenflügel sind verschwunden und haben Platz gemacht für Spielplatz, frisches Grün und Bänke zum Ausruhen. Für die Rentnerin wie für die vielen anderen, vornehmlich jungen Familien, die hier eingezogen sind, werden die Anstrengungen sozialistischer Wohnungsbaupolitik immer spürbarer. Da schlägt nicht nur die Wohnlichkeit in den eigenen vier Wänden zu Buche. Da wachsen in gleichem Maße all die anderen Einrichtungen mit, die für die Bedürfnisse des täglichen Lebens erforderlich sind: Kinderkrippe und Kindergarten, Schule und Kaufhalle, Gaststätte und Poliklinik. Wer die Gegenwart wie Elisabeth Rambalski an den Erlebnissen der Vergangenheit mißt, weiß die Vorzüge sozialer Sicherheit und Geborgenheit in besonderem Maße zu schätzen. Mehr als vierzig Jahre ihres Lebens hat sie im Haus Christinenstraße 7 gelebt. Zu Kriegsende ist sie mit ihrem damals 16jährigen Bruder in eine winzige Mansardenwohnung unterm Dach gezogen. Glückliche Jahre hat die gelernte Näherin dann dort mit ihrem Mann - mit Etc, dem Kraftfahrer - verlebt, bis dieser vor zehn Jahren starb. Wen wundert's, daß Lieschen Rambalski in diesem Viertel bleiben wollte. Vieles ist hier noch zu tun. Auch die Bauleute aus dem Bezirk Frankfurt (Oder) haben sich darauf eingerichtet, noch über Jahre hinaus Häuser im Berliner Prenzlauer Berg zu rekonstruieren. In welchem Klima dies geschieht - dafür legt die Freundschaft in der Christinenstraße ein beredtes Zeugnis ab. Wissenschaftljche Beratung : Dr. Horst- Werner Rohls Ergänzungsfotos: Archiv

Hlusenchluchten, wie sie eine

Wohnungspolitik hertotbl'achte, die auf Profit

aus war.

Wohnungselend 1907: In ärmlicher Stube und Kiiche

lebte diese Familie mit zehn Kindern. (Foto Mitte)

KellelWOhnung 1917 mit feuchtem und finsterem Kochraum SEITE 75



3IXJO W~ IUS EllOpl. dtn USA und rc.t nieten Kont1Mttt8 diauti«ttn im Nofetnbff 1986 auf dtm inttrrlltioMltn KongrtB dtr Nltur~ Notwendigitit und M6glicMtit. dwch DiMog rJJ politiden ~in,,.,, dtr nukltMtn Abrüst!Nlg zu kommtn.



Einstein und das Weltgewissen Von 1914 bis 1932 wirkte Albert Einstein, einer der größten Physiker, in Berlin. Diese Jahre gelten als die fruchtbarsten seines Lebens. Hier stellte er 1915 seine Allgemeine Relativitätstheorie auf, leitete seit 1917 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Dahlem und wurde 1921 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. In Berlin war Einstein Mittelpunkt eines Kreises von Gelehrten, zu denen Max Planck. Max von Laue, Walther Nernst. Fritz Haber und Otto Hahn gehörten. Der »Kopernikus des 20. Jahrhunderts«, wie Planck Einstein einmal nannte, hat wie kein anderer Naturforscher unseres Zeitalters zur Erfüllung der faustischen Sehnsucht beigetragen, zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält - den

Mikrokosmos, die Welt der Atome, ebenso wie den Makrokosmos, die Welt der Sterne. Mit der berühmten Formel E = mc2 - Energie gleich Masse mal Quadrat der Lichtgeschwindigkeit - erfaßte er zu Beginn unseres Jahrhunderts die dialektische Gleichwertigkeit von Energie und Masse, nach der in einem Gramm Materie die Kran von 1,5 Milliarden Kilowattstunden schlummert. »ICH LIEBE DEN FRIEDEN« Wenn wir heute Atome spalten, Moleküle zählen, Laser erzeugen und Computer nutzen können, so verdanken wir dies nicht zuletzt dem Schöpfer der Relativitätstheorie und Mitbegründer der Molekularphysik.

Der Schlüssel zu Albert Einsteins universellem Wesen und Werk ist wohl am ehesten in seinen eigenen Worten zu finden, die er dem von ihm verehrten Isaac Newton widmete: »Ein solcher Mann kann nur verstanden werden, wenn man ihn als einen Schauplatz begreift, auf dem der Kampf um die ewige Wahrheit stattfand.« Werden Einsteins wissenschaftliche Leistungen mit denen von Johannes Kepler und Isaac Newton verglichen, so sein persönliches Leben mit dem tragischen Schicksal eines Galileo Galilei und Giordano Bruno. Im Jahre 1913 wurde der am 14. März 1879 in Ulm geborene Gelehrte zum Mitglied der Berliner Akademie gewählt. Als Demokrat und Kriegsgegner kam er im April 1914 in das Berlin der Hohenzollern. »Ich liebe Deutschland, ich liebe seine Sprache, ich liebe sein Volk. Aber ich liebe nicht den Krieg, ich liebe den Frieden«, hatte er schon vor seiner Übersiedlung aus der Schweiz zu Planck und Nernst gesagt, die ihn in Zürich besuchten. »ERST JETZT FÜHLE ICH MICH IN BERLIN WOHL«

f

otodoltumente aus Einsteins Wir'ttn in BMin.

Fünf Nobelpreisträger in der Wohnung Max "111 Laues (auf dem Foto obtn, r. I. n. r.): W. Nernst, A. Einstein, M. Plllnck,

R. A. Millikan, M. r. Laue. Foto darunter: Albert Einstein hilt im Oktober 1932 seinen Abst:hiedmxtrag in der Berliner Philharmonie.

Vier Monate später lösten die deutschen Imperialisten den ersten Weltkrieg aus, der für Einsteins weitere politische Haltung entscheidend war. Gemeinsam mit wenigen Gesinnungsgenossen wie dem Physiologen Georg Friedrich Nicolai und dem Astronomen Wilhelm Förster wandte er sieb im Oktober 1914 mit einem »Aufruf« an die Europäer und trat einen Monat später dem »Bund Neues Vaterland« bei, einer Vereinigung pazifistischer Intellektueller, die sieb für einen baldigen Friedensschluß ohne Gebietsforderungen einetzte. In einem Brief an den großen französischen Romancier Romain Rolland, mit dem er sich mitten im Krieg, am 16. September 1915, in dem Schweizer Ort Vevey zum Gedankenaustausch traf, schrieb Einstein von der »tückischen epidemischen Krankheit«, die grassiere und dazu geführt habe, daß sich manche Wissenschaftler verschiedener Länder gebärden, >>wie wenn ihnen im August 1914 das Großhirn amputiert worden wäre«. Einstein begrüßte als einer der wenigen großen Naturforscher die Oktoberrevolution in Rußland und die Novemberrevolution in Deutschland. Lenin bezeichnete er als einen »Hüter und Erneuerer des Gewissens der Menschheit<<, und am 11. November 1918 schrieb er an seine Mutter in der Schweiz: »Erst jetzt fühle ich mich in Berlin richtig wohJ.« Gemeinsam mit Walther Ratbenau, Wilhelm Külz, Otto Nuschke und anderen aufrechten bürgerlichen Demokraten gehörte Einstein am 16. November 1918 zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufes der Deutschen Demokratischen Partei.

SEITE 78



MORDE UND MORDDROHUNGEN Einstein schätzte Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Darum entsetzten ihn die kaltblütigen Morde, später auch an Walther Rathenau, mit dem er persönlich befreundet war, ebenso wie die konterrevolutionären Putsche von Kapp-Lüttwitz 1920 und Hitler-Ludendorff 1923. Wochenlang, monatelang war er verzweifelt und stellte sich die Frage, ob es sinnvoll und möglich sei, weiter in Berlin zu bleiben. Seine die Wissenschaft revolutionierenden Theorien wurden bereits in den 20er Jahren von der Reaktion als »Bolschewistenphysik« beschimpft, und er selbst - der seit 1923 die »Gesellschaft Freunde des Neuen Rußland« unterstützte - war Morddrohungen ausgesetzt. Die letzte öffentJiche Veranstaltung, die Einstein in Deutschland besuchte, war der Empfang, den der Botschafter der UdSSR in einem Haus Unter den Linden anläßlich der »Deutsch-Sowjetischen Medizinerwocbe« am 29. November 1932 gab. Als die Faschisten den Reichstag in Brand steckten, befand sieb Einstein auf einer Vortragsreise in den USA.



Er erklärte sich öffentlich gegen da »Dritte Reich« und legte seine Akademiemitgliedschaft nieder. DER »FRIEDENSHETZERcc UND DIE ATOMBOMBE Als es immer offenkundiger wurde, daß Hitler den zweiten Weltkrieg entfesseln wird, entschloß sich Eintein auf Drängen junger ebenfall vom Faschi mus vertriebener Phy iker, wie sein Berliner Schüler Leo Szilard und Egon Wigner, an Prä int Roo evelt zu schreiben und anrc en, die USA-Regierung möge rglich die Anwendbarkeit der cmenergie für militäri ehe Zwecke priifen. Albert Einstein handelte in der tiefen Sorge, die im faschi ti· hen Deutschland verbliebenen bedeutenden Physiker würden im Auftrag Hitlers die Atombombe bauen. Nachdem sich diese An· nahme dann später - 1945 - als irrig erwies, bedauerte Einstein seinen Schritt zutiefst : »Wenn ich damal , 1939, bestimmt gewußt hätte, daß es den Deutschen nicht gelingen würde,

E

illlttins Frau {im Auto stehend) 1921 bei tiner Antilc~ion im Berliner Lustgarten.

die Bombe herzustellen, hätte ich davon Ab tand genommen, Roo evelt den Rat zu geben.cc Auf einem Empfang für Nobelpreisträger im New Yorker Waldorf-Astoria-Hotel erklärte er am 10. Dezember 1945 : »Der Krieg ist gewonnen, der Friede nicht. „ Wir übertreiben nicht, wenn wir behaupten, daß die Lösung des wahren Problems einzig von der Verständigung großen Stils zwi eben diesem Land und Rußland abhängt ... Nicht Drohung, nur der ehrliche Wille, ein gegenseitiges Vertrauen zu schaffen, kann einen dauerhaften Frieden herbeiführen.cc Nach dem militärisch sinnlo en Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, den Einstein gemeinsam mit anderen amerikanischen Kernphysikern zu verhindern suchte, bezeichnete er sich selbst gern als einen »Friedenshetzer«, der im Dienst der Erhaltung des Weltfriedens seine wertvolle Zeit noch bewußter »zwischen der Politik und den Gleichungencc teilt. FÜR EINE KOALITION DER VERNUNFT »Die Naturwissenschaft hat zwar die gegenwirtige Gefahr herbeigeführt,

aber das wirkliche Problem liegt im Denken und im Herzen der Menschencc, stellte Albert Einstein in Übereinstimmung mit seinen beiden bedeutendsten Mitstreitern im Kampf gegen den Atomtod, Albert Schweitzer und Bertrand Ru seil, 1946 fest. Bis zu seinem Tode wiederholte er die Forderung, daß »eine neue Art des Denkenscc notwendig sei, wenn die Menschheit fortbe te· hen und sich weiterentwickeln wolle. Die Atombombe habe das Wesen der Welt von Grund auf verändert, das Men chengeschlecht sei in eine neue Umgebung versetzt, der e ein Denken anpassen mü e. Da es gegen Kernwaffen, die die gesamte Zivilisation vernichten können, keinen wirksamen Schutz gäbe, müs e die Außenpolitik eines jeden Staates darauf gerichtet sein, den Atomkrieg zu verhindern. Das geistige Erbe seines neuen Denkens verwirklicht sich in allen Überlegungen und Forderungen, in allen Warnungen und vor allem in den Taten, die darauf gerichtet sind, die Menschheit vor dem nuklearen Inferno zu retten. Dieser Aufstand des Weltgewis ens gegen die Gefahr einer Selbstvernichtung der Menschheit, die aktive Verständigungs- und

Friedenspolitik der oziali tischen Länder, ihre konstruktiven Vorschläge zur nuklearen Abriistung wirken im Sinne von Einsteins Vermächtnis. So veröffentlichten kürzlich die Naturwi enschaftler der DDR im Einstein-Haus Caputh eine Erklärung, zu deren Unterzeichnern die Profes· soren Robert Rompe, Peter Adolf Thießen und Klaus Fuchs gehören, die noch bei Einstein Vorlesungen hörten. In die cm Dokument heißt es : »Vor fünf Jahren, im Oktober 1981, wiesen wir als Schüler und Schülers-Schüler Albert Einsteins im Appell von Caputh auf die Bedeutung des Einstein-Russell-Aufrufes für die totale nukleare Abriistung hin. Dieser Aufruf wurde 1955 von Albert Einstein unterschrieben und ist sein politische Testament. Die Warnung Einsteins : >Jede neue Ladung der Waffe bringt die Katastrophe nähere i t heute von furchterregender Aktualität. Daher ist es imperativ, die zweite Forderung Albert Ein teins zu erfüllen und keine neuen Waffen zu entwickeln.cc Horst Hoffmann Fotos: Simon, Wa//och , Zentralbild, N BI-Auslandsdienst, B V-Archiv



Die Toleranzstraße

Von Heinz Knob/och

Diesen Namen gibt es nicht als Straßenschild. Die Große Hamburger wird so genannt. Sie ist eine der zahlreichen, niemals vornehmen Straßen im alten Berlin, schon 1740 gepflastert; nicht länger als vierzig Hausnummern. Wir kommen von Süden, wie die Stadt, als sie sich dehnte über ihre mittelalterlichen Befestigungen hinweg, auf deren Wall inzwischen die Stadtbahn rollt. Als mit der Spandauer Vorstadt ein neues Viertel entstand, durfte die jüdische Gemeinde ziemlich am Anfang des uralten Heerweges, der über Neuruppin nach Hamburg führte, 1672 ihren Friedhof anlegen. Nach hundertjähriger Unterbrechung waren Juden wieder zugelassen in Berlin. Aus Wien hergeführte, sorgfältig nach Handwerkskunst und Gewerbe ausgelesene Familien, mit denen die neue Geschichte der Berliner Juden begann. Neben dem Friedhof entstand ein Krankenhaus, ein Altenheim kam dazu. Es gab eine christliche Hebamme im »Judenbaus<<. Wo ist das? Nur wenige Schritte bis zu dem breiten Eingang in eine Grünanlage. Rasen und alte Bäume. Ein Friedhof'? Wo sind die Gräber? Mißtraut den Grünanlagen, denn die Geheime Staatspolizei hat diesen Friedhof umgebracht wie Millionen Menschen. Dreitausend Grabsteine sind verschwunden. Einer wurde neu geschaffen nach dem Kriege und vermutlich an die Stelle gesetzt, wo Anfang Januar 1786 Moses Mendelssohn begraben wurde, wo Anfang September 1929 der Magistrat einen Kranz niederlegte mit der Aufschrift : »Ihrem großen Mitbürger die Stadt Berlin«. er Philosoph, Schriftsteller und Menschenfreund, der Berliner Aufklärer, der die kulturelle und bürgerliche Emanzipation der Juden in Preußen verfocht und einleiten konnte. Der Journalist, Buchhalter, Shakespeare- und Bibel-Übersetzer, »Schutzjude« unter Friedrich II., der ihn nie in seine Akademie der Wissenschaften aufnahm, allen Legenden über religiöse und intellektuelle Toleranz in Preußen-Deutschland zum Trotz. »Herr Moses« nannten ihn seine Freunde Lessing und Nicolai. Manchmal bringt jemand einen kJeinen Stein mit, wie man sie statt Blumen auf jüdische Gräber legt. Aber spielende Kinder und der Ordnungszwang Unwissender wischen diese Grüße oft wieder herunter. Seit der Renovierung des Begräbnisplatzes vor hundert Jahren sind etwa zwanzig Steine mit hebräischen Inschriften in die Grundstücksmauer eingelassen. Sie deuten stumm an, was für eine Kulturstätte Berlin besäße, wäre nicht... Auf diesem Gelände sind in den Maitagen 1945 Soldaten beigesetzt worden und manche aus der Nachbarschaft, die es beim Wasserholen oder Anstehen nach Brot getroffen hat. Das Andenken dieser Opfer ehrt an der Mauer eine wegen ungelenker Buchstaben für fremde nicht leicht lesbare Tafel. Wer zum erstenmal durch diese Straße geht, erwartet er solche Begegnung mit deutscher Geschichte? Draußen statt eines Hauses ein Rasen mit einem Gedenkstein. »An dieser Stätte befand sich das erste Altersheim der Jüdischen Gemeinde.« 1942 zog die Gestapo ein und verwandelte es in ein

D

Sammellager. 50 000 Berliner sind von hier in den Tod verschleppt worden nach Auschwitz oder Theresienstadt. (Da wagst du, von Toleranzstraße zu reden?) in mehrstöckiges Haus. Die Kommunale Berufsschule »Prof. Dr. Richard Fuchs<<. An die blaßgrüne Jugendstil-Haustür durfte ein farbenblinder einen tiefblauen Briefbehälter schrauben. Über dem Tor, in Stein gemeißelt und deutlich lesbar: » Knabenschule der jüdischen Gemeinde«. Dazu der Stern Davids. Das berühmte Schulhaus. 1778 hatten Moses Mendelssohn und sein Freund Friedländer in Berlin die erste deutsche jüdische Freischule öffnen können, in der auch christliche Knaben zugelassen waren und christliche Lehrer neben ihren andersgläubigen Kollegen unterrichten durften, bis dieser tolerante Zustand 1819 verboten wurde. Die später gegründete jüdische Knabenschule erhielt 1863 einen Neubau, hier in der Großen Hamburger Straße, wo seit 1906 di~ses denkwürdige Schulgebäude steht. Nachdem 1942 sämtliche jüdische Schulen verboten worden waren, wurde dieses Haus zum Ort des Schreck.liehen und der Tränen. Die zur Deportation aus ihren Wohnungen abgeholten alten Menschen erlebten auf dem Weg ins Konzentrationslager in dem Schulhaus, das nicht wenige an Kindertage erinnerte, ihre letzten Berliner Stunden. So ist der Name »Große Hamburger« zum Inbegriff des Sammellagers geworden »und in dieser Bedeutung in die jüdische Geschichte eingegangen« (Hermann Simon).

E

Figurengruppe ron Will Lammert am Eingang

zum Alten jiidischen Friedhol

Im Vorgarten des Schulhauses, heute steinern, stand einst als augenfäJliger Mittelpunkt eine Mendelssohn-Büste. Enthüllt am 15. Februar 1909. Kein zufälliges Datum, sondern der 128. Todestag seines Freundes Lessing. Im November 1938 steinigten Nazis das Antlitz, bis es zerbrach. Herr Moses kehrte zurück. 1983 wurden an der Fassade eine Gedenktafel und ein Porträtrelief enthüllt. Am 18. März. Kein zufälliges Datum, sondern der 250. Geburtstag seines Freundes Friedrich Nicolai. Dabei wiederholte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde einen Satz, der an dieser Stätte bereits 1909 gesprochen worden war : »Das Denkmal, es wird den Schritt manches Vorübergehenden anhalten.« Ein weiterer Satz aus der Rede von 1909 bestimmt unseren Weg. » Die Große Hamburger Straße, sie wird im Volksmunde die Toleranzstraße genannt, weil Wohltätigkeitsanstalten und Beerdigungsplätze der verschiedenen Konfessionen in ihr sich befinden.«

D

er jüdische Friedhof grenzt an die evangelische Gemeinde. Deren Sophien-Kirche entstand durch Eingaben. Immer mehr Berliner wohnten um 1700 in der Spandauer Vorstadt und baten den Magistrat um ein eigenes Gotteshaus. Gleichzeitig wandten sie sich an die frommen Wünschen geneigte Königin Sophie Louise. Sie spendete 4000 Taler und legte 1712 den Grundstein. Doch das Baugelände reichte nicht. Da schenkte die jüdische Gemeinde ein Stück ihres Friedhofs - es war der Beginn guter Beziehungen. Bei der Einweihung der in einem Jahr erbauten Kirche fehlte die Patin. König Friedrich Wilhelm 1., der seine Stiefmutter nicht leiden konnte, ließ das turmlose Haus in Spandauische Kirche umtaufen und befahl, einen Turm zu bauen. Außer für überlange Soldaten hatte er eine Schwäche füc hohe Türme. Der im Grundriß quadratische, rund 69 Meter hohe, 1976177 restaurierte Turm der Sophienkirche gilt als der schönste Barockturm der ganzen Stadt. Kaum war der König tot, da lebte der im Volksmund bewahrte Name wieder auf: Sophiengemeinde, Sophienfriedhof, und vor genau 150 Jahren wurde aus der Kirchgasse die Sophienstraße, die in die Große Hamburger mündet. Als man 1771 in der Kirche G rabgewölbe anlegte, half den Maurern ein Lehrling namens Zelter. Er brachte es später zum Meister, im Baugewerbe und als Direktor der Singakademie; bekannt als Förderer des jungen Moses-Enkel Felix Mendelssohn Bartholdy. Zelter, in enger Altersfreundschaft mit Goethe verbunden, liegt hinter der Kirche begraben. Deren Hof enthält noch bemerkenswerte Tafeln und Gräber. Kinder bauen mit und auf Sand, der Zufall will's, gleich neben Rankes ansehnlichem Grab, der als Historiker die Geschichte schreiben wollte, wie sie »eigentFortsetzung auf Seite 82 NBI 1987

SEITE 80





Etwa 20 in die Grundstix:ksmauer ei~ Steine mit hebräischen lnschrihen überdauerten das Zentörungswri der Gestapo. NBI 1987

SEITE 81



Die Toleranzstraße Fortsetzung von Seiu 80 lieh gewesen ist«. In diesem Kindergarten steckt Kulturtradition. 1885 richtete die Sophiengemeinde eine der ersten Kleinkinderbewahranstalten ein. Ein von Lächeln begleitetes Wort; endlich ein Name ohne Grauen.

D

ie Häuser Nr. 29 bis 31 , um 1905 mit Verstand angelegt, danut sie in der Mitte den Blick auf die Barockkirche freigeben. fünfgeschossig, das ist mehrdeutig, mittlerweile, denn ihre Fassade wurde von Geschossen zerlöchert, kugelhageldicht bis in die oberen Stockwerke. Die Spur des zweiten Weltkriegs, als er durch die Krausnickstraße in die Große Hamburger drang - Anschauungsunterricht, wie Geschichte eigentlich und tatsächlich gewesen ist. Krausnickstraße. Diese Verbindung wurde erst 1861 durch ein Grundstück gezogen, das der Schutzmanns-Pensions-Zuschußkasse gehörte. Sogar im Zuschuß steckt das Schießen. Unsere Sprache, unsere Vergangenheit. Neu angelegte Straßen brauchen einen Namen. Die Einwohner, Anlieger, Abräumer und andere Mitdenker schlugen ungefragt und unbefugt vor, sie nach Humboldt zu benennen oder nach Schinkel. Den König von Preußen interessierte das nicht. Die Straße mußte »zu Ehren des Oberbürgermeisters Krausnick« heißen. Warum nicht? Doch wenn man nachsieht, unnachsichtig, sieh da, ein gemeinsames Erlebnis vom März 1848 verband König und Krausnick. Beide waren schleunigst aus Berlin geflohen. Als die Straße seinen Namen erhielt, lebte Krausnick noch. Er war fast echsundzwanzig Jahre Oberbürgermeister gewesen, mit Unterbrechungen. Ein korrekter, tets obrigkeitshöriger Beamter, der in jenen Märztagen versäumt hatte, was ihm im Mai ein Flugblatt in jiddisch-deutscher Sprache vorhielt: »Sie haben immer gekonnt chön reden, aber Sie hätten gemußt schön handeln. Sie haben immer nur geblinzelt nach oben, und unten i t für Sie alles gewesen finster. Sie sind gewesen taub für die Stimme der ZeiU< Ein publizistisches Glanzstück, gegen das Krausnick später klagte. Es gab acht solcher Briefe an Berlin, denen größter, nachhaltigster Publikum erfolg beschieden war. Anreger und Vorfahren ; nur kann leider niemand sagen, ob der Journalist Louis Weyl sie schrieb oder Samuel Loewenherz, der Verleger. an bekam das Flugblatt für Krausnick gleich um die Ecke in der Sophienstraße. Dort, an der Ecke Große Hamburger, stand im März 1848 eine Barrikade. Wir bringen mit un eren Augen Gedenktafeln an für die drei Märzgefallenen aus dieser Straße. Der Buchbindergeselle Menge! wohnte Nummer 8, der Arbeitsmann Dauerfeld in der 30 und der Privat-Sekretär C. W. Blumenthal in der 16, wo heute das Cafe ist mit dem kleinen Vorgarten. Im steinernen Bogen über der Haustür ein altes Relief. Vier Kindlein, wie Puppen, an eine dicke Girlande gelehnt. Wie beim Tanz der kleinen Schwäne in »Schwanensee« halten sie sich an den Händen und damit fest. Jedes ist für die anderen da, erfährt Gemein chaft, bietet Halt, steht deshalb nicht allein. Zeigt dieses Relief etwa die Idee dieser Straße ; nicht nur dieser? Blick auf das Haus gegenüber; an dessen Fassade zwei große Engel im Geschmack der Jahrhundertwende. Unten hat das Burckhardthaus sein Büro, eine mit Aus- und Weiterbildung befaßte Einrichtung der evangelischen Kirche. Der Name erinnert an einen Pfarrer, der vor hundert Jahren

M

Mädchen betreute, die vom lande und aus der Kleinstadt nach Berlin kamen, um in der Großstadt als Dienstbote oder Arbeiterin ihr Glück zu suchen. Wer erzählt solche Leben läufe? Wer weiß etwas über Napoleon Soldaten, die 1806 in der Sophienkirche lagerten ? 1848 bot sie nicht nur Barrikadenkämpfem Zuflucht, sondern diente danach als Wahllokal für die Nationalverammlung. Wenn Fontane uns das hätte beschreiben können ... Er lernte in der Großen Hamburger Straße ein kleines Mädchen kennen, die Adoptivtochter des Kommissionsrats Kummer, die er fünfzehn Jahre später heiratete : Emilie. Fontane wohnte damals als junger Mann mit Onkel und Tante im Parterre eines Neubaus. Sein Zimmer, »das so feucht war, daß das Wasser in langen Rinnen die Wände hinunterlief«, lag in einem »uns von dem alten Judenfriedhof abtrennenden Seitenflügel«. Deshalb nehmen viele an, Fontane hätte in der Nummer 25 gewohnt. Doch den alten Fontane täuschte die Erinnerung, als er die e Zeilen sei-

•Wie beim Tanz der kleinen Schwine ... • Relief im Türbogen des Hauses Nr. 16

mit minutiö er Sorgfalt gepflegte Sech e, die sie glatt angeklebt zwi chen Ohr und Schläfe trug.« Vater Fontane, al er seinen Sohn besuchte, erkannte Alma ofort sachverständig als öffentliches Mädchen. Solche täu chten gern mit dem Familien tand »Witwe« die Sittenpolizei. 1901 nennt das Adreßbuch im Haus Nr. 34 unter sechzehn Mietern zehn Witwen. Berufsangabe? Oder war der Tod o unbarmherzig? Die Witwe Hunold unterhält ein Sargmagazin. Jedem Krankenhaus sein Gegenüber. 1854 eröffnete die katholische St. Hedwigs-Gemeinde ihr Krankenhaus, geleitet von den »Barmherzigen Schwestern von der Gesellschaft des heiligen Karl Borromäus«. 1881 wurde das Gebäude erweitert. »Nimmt Kranke aller Konfes ionen auf«, heißt es vor hundert Jahren in einem Stadtführer. Das St. Hedwigs-Krankenhaus grenzt an das Grundstück der Synagoge Oranienburger Straße und an die »Jüdische KrankenVerpflegungs-Anstalt<< (heute Max-Planck-Oberschule}, gleich um die Ecke in der Auguststraße. Dort gab es siebzig Betten »für Kranke (auch christlicher Konfession)«. Toleranzgegend. Die Große Hamburger Straße endet dort, wo sie amtlich mit der Hausnummer 1 beginnt und gegenüber die 40 zeigt. In dieser Nr. 40 lebte Baruch Zeisel, bis er 39jährig in Buchenwald ermordet wurde. Wer hier die Auguststraße überquert, was empfohlen ei, gelangt auf einen Platz mit merkwürdig erhöht gelegener Grünanlage. Der Koppenplatz. Benannt nach einem Stadthauptmann und Ratsherrn, der vor gut dreihundert Jahren da unbebaute Gelände erwarb und der Armenverwaltung chenkte, damit für alte Frauen ein Wohnhaus gebaut und ein Annenfriedhof eingerichtet werden konnte. So mündet die Toleranzstraße in einem aus Nächstenliebe geborenen Platz. An der Ecke Sophienstraße, wo jüngste Neubauten mit Läden entstanden, hämmerte vor zwanzig Jahren weit hörbar ein Steinmetz auf diesem enttrümmerten Stück Stadt. Ein Berliner Original. Er hatte gegenüber dem St. Hedwig -Krankenhaus einen winzigen Laden mit allerlei Krimskrams im Fenster. An der Tür ein Foto seines Sohnes, den ihm der Hitlerkrieg genommen hatte. Das stand dort ge chrieben als Friedenskundgebung eine einzelnen, Betroffenen.

N

Pottrltrtliel und Gedt!!nlttafel für Moses Mendelssohn "" Gebiude der themaligen Knabenschule der jiidischen Gemeinde. nes »Von Zwanzig bis Dreißig« schrieb. Er hatte auf den Sophienfriedhof geblickt, denn er wohnte im Doppelhaus Nr. 30/ 30a, damals Ostern 1835 - ein Neubau. »lauter gescheiterte Leute hatten hier, als Trockenwohner, ein billiges Unterkommen gefunden.« Das Wort will gedeutet sein. Aus Neubauten mußte die Nässe herausgewohnt werden durch Familien, die dafür kaum oder keine Miete, aber mit ihrer Gesundheit zahlten. »Anne Künstler, noch ärmere Schriftsteller und bankrotte Kaufleute«, an der Kas enprüfung »gescheiterte Bürgermeister aus Kleinstädten«, verkommene Adlige. Dazu Alma, >>eine kleine, sehr wohlgenährte Person mit roten Backen und großen schwarzen Augen, die mit seltner Stupidität in die Welt blickten. Ihre Hauptschönheit und zugleich auch das Zeichen ihres Berufes war eine

achbarschaft. Vor hundert Jahren ind in der Straße, in der vormals Büch enmacher, Postschirrmeister, Handwerker und Diener wohnten, sehr viele kleine Fabriken: Mineralwasser, Wäsche, Farben, Treibriemen. 1901 in den Häusern 18/ 19/20: Privatklinik, Kur- und Badeanstalt »Monbijou«, Poliklinik, Gewehrfabrik. ferner die 1818 gegründete Luxu papierfabrik C. Schauer Nachf. (Knallbonbons, Oblaten, Bonbon-Einwickelpapier). - 1914: Verband und Arbeitsnachweis der Gastwirtsgehilfen mit ihrem Zentralorgan »Der Gastwirtsgehilfe«, gewerkschaftsähnliche lntere enverbände, auch für Cafe-Angestellte. - 1943 unterhält der CaritasVerband ein katholische Jugend- und Lchrlingsheim. Und was geschieht gegenüber? Für die Häu er 26/27 ist der Eigentümer »ungenannt«. Er heißt Hitler-Himmler-Eichmann-IG-Farben und andere. 1937 stand als Eigentümer: »Jüdische Gemeinde«. Die >> Endlösung« ist im Berliner Adreßbuch nachzulesen. Wir verlassen diese Straße nicht ohne den Satz, den der vielgeehrte, oft gedemütigte, gütige Weise Mose Mendels ohn als Motto seines Daseins in manches Stammbuch schrieb. Zum Weitersagen steht am Schulhaus neben seinem Bild : » Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Be te tun«. Fotos: Pierre Guillaume NBI 1987

SEITE 82





s

Sie hat ein Geburtsdatum. die dicke, runde EckensteherinAm 5. Dezember J854 erteilte der Königliche General- Polizeidirektor

von f{inckeldey dem Berliner vruckereibesitzer Ernst Litfaß die J(onzession, J80 Anschlagsäulen in den Straßen der Stadt aufzustellen.

J..,itfaß' sauten waren ein Erfolg, sie wurden poptiliir und sind noch heUte unentbehrliche J(ommunikationsmittel. Also nutzen auch wir die Litfaßsäule zur J(undgabe berlinischer Spezialitäten:



Solopart

Sinfonie

n die zweitausend Besucher können im Schauspielhaus Berlin zu gleicher Zeit Platz finden : im Großen Konzertsaal (mit der prachtvollen Orgel, links), im Kammermusiksaal und im Musikclub. Dennoch ist das Haus meist ausverkauft. Nicht nur während der Internationalen Musikbiennalen und anderer Musikfestivals. Etwa 700 Veranstal· tungen zählt man in einer Spielzeit. es gastieren Orchester, Ensembles und Solisten aus aller Welt. Eine ständige Heimstatt fanden im Schinkelbau das Berliner Sinfonieorchester und die traditionsreiche Singakademie, ständig mit Konzerten zu Gast sind die vor mehr als 400 Jahren gegründete Staatskapelle, das Rundfunk-Sinfonieorchester und andere bedeutende KJangkOrpcr Berlins.

aris hatte seinen Jacques Offenbach, Wien seinen Johann Strauß - da kam den Berlinern der fleißige Paul Llncke gerade recht. Der hatte großen Vorbildern in die Notenblätter und den Gassenhauer singenden Berlinern aufs Maul geschaut. Seine »Frau Luna« traf 1899 genau ins Schwane. Da war sie, die Berliner Luft, Luft, Luft. Die Melodien zündeten, und Paul Lincke eröffnete damit den Reigen der Komponisten spezifisch berlinischer Operetten. der über Jean Gilbert, WaJter Kollo und Nico Dostal bis ins Heute zu Gerd Natschinski und Guido Masanetz reicht.

A

P

unter Fasch und Zelter begründete Tradition des Chorgesangs bis in die GegenWlrt fortgeführt wird. Im 19. JahrIMnlert profilierte sich Bertin als Stadt der Musik. Albert des16.jahrhunderts,und Lortzing, Franz Uszt und Felix unter Friedrich II. dann 1742 Mendelssohn Blrtholdy wurdie Undenoper, die allerdings den umiubelt. 1821 W\l'de die nur vor geladenen Gisten Uraufführoog des »Freispielte. Das aufsbebende schütze von c.t Maria von Bürgertum suchte daher in Weber im Bertiner SchauLaienvereinigungen Wege zur spielhaus zur Geburtsstunde pflege der Musik. Bedeutend war dabei 1790 die Gründung der Singakademie, deren usiziert W\l'de im alten Bertin bereits, als am Mühlendmun die ersten Hiuser wuchsen. Eine Holbpelle jedoch entstand erst Anfang

M

der deutschen Volksoper. Das traditionsreiche Theater bereidwte bis in das 20. JahrtuMlert hinein Berlins Musikleben dwch Konzerte. Es spielten führende Ordlester unter Richard Strauss, Otto Klemperer, Wilhelm Furtwingler und Herbert von Kn;an. Heute, nach glanzvoller Weedereröffnung im Jahre 1984, ist das Bertiner Schauspielhaus als Konzerthaus Zentrum des Musik-

E

ine Tuba macht noch keinen Sommer, aber die Teilnahme vieler Orchester, Chore und Solisten den »Berliner Sommer« seit Jahren zu einem HOhe- ~ punkt im KuJturleben der Hauptstadt.

usik findet materiaJisierte Gestalt in der Innenarchitektur des Schauspielhauses, die den Schinkelschen Ideen verpnichtet ist. Sie prägt aber auch Ausstellungen wie jene, bei der man dieses »Musikobjekt« von Jürgen Ammer sehen konnte.

M ock in Berlin - traditionell und internationaJ besucht sind Treffen wie »Rock für den Frieden« und »Lledersommer der FDJ«.

R

Fotos: Guillaume, Breiten bom, Lamme/, Reutermann

NBI 1987

SEITE S4





Haramhab eltwunder nannte man bereits in der Antike den Altar von Pergamon, dessen kunstvoller Marmorfries (links) den Kampf der Götter und Giganten darstellt. Das aus OriginaJteilen rekonstruierte Bauwerk ist im Pergamonmuseum Hauptanziehungspunkt für Besucher aus allen Erdteilen, die in diesem ersten Architekturmuseum der Welt auch das unvergleichliche Markttor von Milet und außergewöhnlich kostbare Werke der Plastik und Kleinkunst des griechisch-römischen Altertums besichtigen können.

us Arnarna stammen die kostbarsten, um 1360 v. u. Z. entstandenen Kunstwerke des Ägyptischen Museums, Bildnisse der Familie der Königin Nofretete, darunter der Statuenkopf ihrer Tochter MeritAton (unten), und Reliefs aus dem Grab des späteren Königs Haramhab. Bedeutsam ist auch die Papyrussammlung mit annähernd 30 000 Texten.

W

A

as Bildnis des Ichikawa Omczo ist eines der berühmten Schauspielerporträts des japanischen Meisters Sharaku aus dem Besitz der Ostasiati-

D

ach dem Louvre in Paris und dem Britischen Museum in London besitzt Berlin die drittgrößte Sammlung orientalischer Altertümer. Den Weltruhm seines Vorderasiatischen Museums haben vor allem die aus farbig glasierten Reliefziegeln zusammengesetzten Architekturdenkmäler begründet: die Prozessionsstraße mit dem lschtar-

N

NBI 1987

is in die jüngste Vergangenheit führen die Exponate des Museums für Volkskunde auf der Museumsinsel. Mit einer Ausstellung »Großstadtproletariat« gibt das Haus Einblicke in die Lebensweise der Industriearbeiter vornehmlich in den Mietskasernenvierteln Berlins.

Tor und die Thronsaalfassade von Babylon, um 580 v. u. Z. unter Nebukadnezar erbaut, um 1900 ausgegraben, in dreißigjähriger Arbeit rekonstruiert. Erfolgreiche Grabungen in Babylon, Tel HaJaf und anderen Orten des Orients führten 1899 zur Gründung des Museums, das 1930 im neuen Gebäude des Pergamonmuseums repräsentative Räume erhielt.

mflossen von den Museen und Sammlungen der Wassernder Staatlichen Museen zu Berlin Spree und des konzentriert, dort ist die EntKupfergrabens birgt Berlin widdung von Kunst und Kuleine Schatzkammer der Welt- tur der Menschheit seit der kultur: die Museumsinsel. Urzeit bis in die Gegenwart Dort sind die meisten der 14 nacherlebbar wie an nur weni-

U

sehen Sammlung. Ihre Bestände wurden durch Kriegsfolgen erheblich dezimiert, doch Neuerwerbungen komplettierten den Fundus u. a. bei ostasiatischem Kunsthandwerk so, daß heute z. B. die Entwicklung chinesischer Keramik über 4000 Jahre lückenlos durch Exponate dokumentiert ~ werden kann.

B

Fotos: Guillaume, Murza

Faschismus und Krieg, um auch dem kulturellen Gut der Museumsinsel unermeßlichen Schaden zuzufügen. Weltgeltung erlangten die Berliner Sammlungen erst wieder 1958, als mit den in der

UdSSR sichergestellten und restaurierten Exponaten - sie kamen in mehreren hundert Eisenbahnwaggons zurück nach Berlin - die Bestände der Museen aufgefülh werden konnten. SEITE 85



Bauernheer W

eil 1685 das Edikt von Potsdam den in Frankreich verfolgten Hugenotten Zuflucht versprach (Abbildung rechts : Refugies danken dem Großen Kurfürst für die Aufnahme), kamen 20 000 Flüchtlinge, von denen sich etwa 6000 in Berlin niederließen. Sie trugen entscheidend zur Belebung der Wirtschaft und zur geistig-kulturellen Entwicklung der Stadt bei. In den Räumen der Französischen Friedrichstadtkirche am Platz der Akademie ist das Hugenottenmuseum ihrer für Berlin so außerordentlich bedeutenden Geschichte gewidmet.

.a-....,.....

j E

~.J

&-;; ~;~



F

Z

rößtes regionalgeschichtliches Museum der DDR ist das 1847 gegründete Märkische Museum, in dem u. a.

die Automatophone, die mechanischen Musikinstrumente, immer wieder begeisterte Betrachter und Zuhörer finden.

aufgestellt wurde. Der 12 Meter hohe Brachiosaurus ging trotz seines hohen Alters (er lebte vor etwa 150 Millionen Jahren) auf Reisen. Jüngst wurde er auf einer als Sensation gewerteten Ausstellung des DDRMuseums in Japan vorgeführt. Drei Museen sind in diesem einen vereinigt: das Paläontologische, das Mineralogische und das Zoologische Museum. Alle gehören zur Humboldt-Universität.

ls Karl Friedrich Schinkel das Alte Museum am Lustgarten, das erste Museum Berlins, erbaute, formulierte er dazu 1828 in einer Denkschrift den Grundsatz •Erst

erfreuen, dann belehren«.

u den einmaligen Schaustücken des Museums für Naturkunde - es zählt mit seinen Sammlungen zu den größten der Welt - gehören der Archaeopteryx (Abbildung), der Urvogel, der zugleich Wappentier des Hauses ist, und das mächtigste Skelett eines Sauriers, das jemals in einem Museum

ünfnadeltelegraf von 1837 aus dem Postmuseum, das über das Post-, Fernmelde- und Nachrichtenwesen informiert.

J G

A

in Kleinod der Baukunst ist das 1681 erbaute Barockschloß zu Köpenick, und nicht weniger beachtenswert sind die darin seit 1963 befindlichen Exponate des Kunstgewerbemuseums. Zu den besonderen Kostbarkeiten gehören vor allem der in der Schatzkammer des Hauses gezeigte »Giselaschmuck«, ein Ensemble von Gold und Edelsteinen aus dem 11. Jahrhundert, berühmte Porzellane aus Berliner Manufakturen und wertvolle Möbel aller Stilarten. Aus dem zerstörten Stadtschloß stammt das Berliner Silberbüfett, eine Kollektion kostbarer Gefäße,

ahrhundertelang war das Zeughaus Waffenarsenal und Ruhmeshalle der Könige und Kaiser. Heute vermittelt dort das Museum für Deutsche Geschichte ein wissenschaftliches Bild von der Historie und von der gesellschaftlichen Kraft der Volksmassen. (Abbildung : Revolutionäre Bauern aus der Zeit des Großen Deutschen Bauernkrieges, 1525).

gen und Gedenkstätten hinzu. So erinnert in der FritzSchmenkel-Straße in Karlshorst ein Museum der Sowjetarmee an die opferreiche Schlacht um Berlin und an die in jenem Gebäude unterzeich-

Diesem Leitgedanken folgten später viele Berliner Museen, nicht nur die der Museumsinsel. Im Kriege wurden einige davon (z.B. das Neue Museum und das Museum für

Kannen und Becken aus dem Jahre 1698, mit denen König Friedrich 1. einst seine Macht und seinen Reichtum demonstrieren wollte. Der Entwurf dafür stammte vermutlich von Eosander von Göthe. Fotos: Guillaume. Breiten-

bom. Archiv

nete Kapitulation der faschistischen Wehrmacht. Memorialmuseen ehren das Wirken solchei Künstler wie Bert Brecht, Johannes R. Becher, Otto Nagel, Ernst Busch und Arnold Zweig. NBI 1987

SEITE 86





Bärenfels it gerade einmal 400 Tieren (in 120 Arten) stellte sich der Tierpark im Jahre 1955 erstmals seinen Besuchern vor. Heute besitzt er mehr als 6600 Tiere (in über 900 Formen), wobei bemerkenswerterweise die Zahl der Vögel (rund 2400) die der Säugetiere (etwa 2200) nur knapp übertrifft.

M

tolz kann der Tierpark Berlin auf seine Zuchterfolge sein. Methusalem machte 1961 den Anfang, ein Pelikan, der - und das ist einmalig - dort an die dreißig Nachfolger bekommen hat. Im gleichen Jahr kam der ersten Malaienbär zur Welt. Seitdem

S

Ei.Parte

wurde Berlins Tierpark zu einerder größten und schönsten zoologischen Einrichtungen der Welt. Und seit nun über 30 Jahren hater stabile Eintrittspreise: 1Mark für Erwachsene und 50 Ptennig für Kinder.

der Superlative zieht seit dem 2. Juli 1955 von Jahr zu Jahr mehr Besucher nach Berlin-Friedrichsfelde. An jenem Tage wurde der Berliner Tierpark eröffnet. Bereits lange vorher waren unzählige Berliner in den ehemaligen Schloßpark gezogen, um beim Aufbau mit Hand anzulegen. Unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Heinrich Dathe

nterricht im Tierpark ist lehrreich und macht Schülern wie Lehrern Spaß, vor allem dann, wenn er von Mitarbeitern der pädagogischen Abteilung des Parks abgehalten wird. Zu den Aufgaben dieser seit 1967 bestehenden Einrichtung gehören nicht nur Lehrstunden, sondern auch thematische und Spezialführungen (z. B. die beliebten Vogelstimmenführungen), Vorträge vor Lehrern und Erziehern, in Heimen und Klubs. Die Statistik besagt, daß alljährlich die Veranstaltungen der Tierparkpädagogen um 40 000 Teilnehmer haben.

U

ut für eine Tierparkbummel-Kaffeepause: das Terrassencafe (Bild). An die 800 000 Tassen werden dort und an den anderen gastlichen Stätten des Tierparks alljährlich ausgeschenkt.

G

Tierpark mehr dieser Bären gezüchtet, als sonst in allen Zoos der Welt aufwuchsen. Und was noch nirgendwo gelang, war die Aufzucht von Harpyien, seltenen Riesenadlern, von denen in Berlin bereits mehrere groß geworden sind.

Tropenhaus

ür naturwissenschaftlieh interessierte Jugendliche gibt es seit 1958 im Tierpark einen äußerst beliebten Jugendklub. In seinen 30 Arbeitsgruppen - von allgemeiner Biologie über zoologische Präparation bis zur Tierfotografie - gehen regelmäßig rund 350 Mitglieder einem anspruchs-

F

ls erstes schaffte der Tierpark ein Kamel an. Dann kamen Stiftungen von Betrieben, Organisationen, Einzelpersonen. Der VEB Kälte z. B. spendete einen Eisbären, das Ministerium für Schwermaschinenbau einen Elefanten,

A

eine Schlafzimmerfabrik Störche. Die Spendenfreudigkeit hat nie nachgelassen. So wurden in 30 Jahren mehr als 5,6 Millionen Mark in bar übergeben, eine Lotterie erbrachte knapp 5,5 Millionen Mark, Tiergeschenke machten mehr als 304 000 Mark aus. Alles in allem wurden dem Tierpark - einschließlieh der Erbschaften und Legate - über 12,8 Millionen Mark übereignet. Es ist abzusehen, daß dieser Rekord der ersten 30 Jahre noch

en alten Schloßpark Friedrichsfelde hat einst der bekannte Gartenarchitekt Lenne gestaltet. Ihm zu Ehren wurde 1956 dieser Pavillon im Tierpark: errichtet, Teil der vielfältigen künstlerischen Ausgestaltung, zu der vor allem beeindruckende Tierplastiken gehören.

D

m Alfred-Brehm-Haus sind die Raubkatzen zu Hause. Und in diesem weithin gerühmten Bauwerk leben auch etwa l 00 Vögel unterschiedlichster Art zusammen mit Augfüchsen und fruchtfressenden Aedennäusen in einer riesigen Tropenhalle, in die Besucher auch hineingehen können.

I

uf einem kurfürstlichen Gut wurde 1695 das Schloß Friedrichsfelde erbaut. Heute ist es allen zugänglich, es finden dort Konzerte, Dichterlesungen, Vorträge und Ausstellungen statt.

A

Fotos: Rudloff. Guillaume

iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiil~L~~~t~~~siillleiii~~i:i~i:ii~i.wieir-iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii NBI 1987

SEITE 87

Jubel & Trubel er Berliner liebt den Rummel. Schon vor mehr als 150 Jahren wußten Gastwirte umliegender Dörfer - Pankow, Weißensee oder Treptow - ihr Publikum mit »theatralischen Künsten«, mit Habnenkämpfen, SackJaufen, Stangenklettern und dergleichen anzulocken und zu belustigen. Und dann kam der echte Rummel mit Karussells, Geisterbahn und Haut-den-Lukas. Ältere Berliner erinnern sich noch des Lunaparks in Treptow mit seiner Achterbahn. Seine moderne Nachfolge bat seit 1969 der Kulturpark Plänterwald angetreten. Nun lockt der mit seinem 43 Meter hohen Riesenrad (links) zu einem Urberliner Sommervergnügen. Und alljährlich kommen an die 1,4 Millionen dorthin.

rplötzlich wurde Köpenick weltberühmt. Ein Schuhmacher Wilhelm Voigt hatte 1906 mit falscher Uniform und echten Gardesoldaten den Bürgermeister »verhaftet« und die Stadtkasse mitgehen beißen. Ohne eigentliche Absicht gab Voigt damit den preußischen Untertanengeist der Lächerlichkeit preis. Der »Hauptmann von Köpenick<< wurde zur Berliner Volksfigur. Als solche marschiert er heute mit Eskorte zum Rathaus, wenn der Stadtbezirk den » Köpenicker Sommer« feiert. Freilich plündert er dann keine Kasse, sondern nimmt die »Kassette der guten Taten«, eine Erfolgsbilanz der Köpenicker Bürger, in Empfang.

D

U

ls Freizeit noch sehr rar war (Arbeitszeiten wie vom Magistrat 1854 festgelegt: .t.ohgerber von 5 Uhr morgens bis 7 Uhr abends, Nagelschmiede

A

montags und sonnabends von 4 Uhr früh bis 4 Uhr abends, die anderen Wochentage bis 6 Uhr abendsc usw. galten jahrhundertelang als normal), da nutzten die Berliner zumin-

dest Sonn- und Feiertage fürs Amüsement. Von ihren Volksfesten und Belustigungen sind viele noch populir, einige vergessen, neue hinzugekom-

eder Stadtbezirk bat sein eigenes Volksfest, entstanden aus Überlieferungen und aus Gewohnheiten einer mo
Stadtbezirke bereichern den Reigen der alljährlichen regionalen Volksfeste durch das Hobenscbönbausener »Erntefest« und durch die »Hellersdorfer Festtage«. So wird jeder Stadtbezirk einmal im Jahr zum Gastgeber für alle.

J

inderfest ist angesagt. Für Berlins Jüngste gibt es immer wieder etwas zu feiern : Ferienspiele in der Schule, Hausfest auf dem Hof, Straßenfete im Wohngebiet, Pflastermalcn auf dem Alexanderplatz oder Kindertag im Pionierpark und im Pionierpalast.

K

men.

S

o richtig voll

muß es sein, dann fühlt sieb der Berliner auf dem Volksfest wohl. Zum Beispiel am 1. Mai, wenn am Nachmittag die Besucher zu bunten Veranstaltungen, Basaren und Wettkämpfen drängen. Oder beim Pressefest des ND, das ebenso zum Volksfest wurde wie der alljährliche Solidaritätsbasar der Journalisten auf dem Alexanderplatz. Und nicht zu vergessen der Trubel auf dem Weihnachtsmarkt, wo die Fülle schon seit je zur Tradition gehört.

Fotos: Kraemer, Steinberg · NBI 1987

SEITE 88





Premiere

Reprisen n der Behrenstraße gewann das Musiktheater neue Qualität. Im damals erst notdürftig ausgebesserten Bühnenhaus des ehemaligen Metropoltheaters erhielt am 5. Juni 1947Walter Felsenstein die Lizenzurkunde für die Komische Oper Berlin. Der Meister der Regie stellte sich »ein neues Theater als lebendigen Ausdruck einer neuen Zeit« zum Ziel. Und er erreichte es in genialer Weise. Bereits seine erste Inszenierung, die » Fledermaus«, mit der das Haus am 23. Dezember 1947 eröffnet wurde, geriet zu einem überragenden Erfolg. Mehr als 214mal ging sie in anderthalb Jahren über die Bühne. Das realistische Musiktheater

ls am 11. Januar 1949 zum ersten Male der Karren der Mutter Courage im Deutschen Theater über die Bühne rollte, wurde ein neues Kapitel der Theatergeschichte aufgeschlagen. Bert Brecht und Helene Weigel (im Bild rechts) stellten eine Schauspielertruppe vor, die als »Berliner Ensemble« weltberühmt werden sollte. In der Haupt· stadt der DDR erhielt das Ensemble 1954 am Schiffbauerdamm ein eigenes Haus, in dem Brecht seine Ideen zur Erneuerung des Theaters verwirklichen konnte. Durch aufsehenerregende Aufführungen nicht nur der Werke Brechts wurde dann in diesem Hause der Ruf Berlins als Stadt des Theaters auf neue Weise begründet.

A

I

auberer nannte man Max Reinhardt, der 1905 das Deutsche Theater übernahm-und ein Jahr später auch die Kammerspiele gründete. Seine glanzvollen Inszenierungen setzten Maßstäbe, er machte aus dem bekannten Theater ein weltberühmtes. Die von Reinhardt

Z

riedrich II . hatte eigene Vorstellungen von Musik. Zwar ließ er in Berlin ein Opernhaus errichten, doch meinte er auch : »Lieber möchte ich mir ja von einem Prerd eine Arie vorwiehern lassen, als eine Deutsche in meiner Oper zur Primadonna zu haben!« und also hatte dort alles italienisch zu singen. Das ist wahr· haftig kein Vorbild für die Deutsche Staatsoper, die heute in dem prachtvollen Bau des G . W. von Knobelsdorff residiert. 1955 bezog sie dieses im Kriege zerstörte Stammhaus Unter den Lin· den wieder und weihte es mit einer Festaufführung von

Wagners »Meistersinger von Nürnberg« ein. Stätte der Pflege des klassischen Erbes (Bild: Aufführung des »Lohengrin«) ist das Nationaltheater der Oper und des Balletts, und es ist zugleich Forum des musikalischen Gegenwartsschaffens in- und ausländischer Komponisten. Die Llndenoper kann sich z. B. rühmen, als einziges Opernhaus der Welt alle Bühnenwerke des Komponisten Schostakowitsch inszeniert zu haben. Von besonderem Reiz sind dort Aufführungen kleinerer Opern- und Ballettwerke im architektonisch bemerkenswerten Apollosaal.

mAnfang war das Laienspiel: Mönche vom Berliner Grauen Kloster führten im 14. Jahrhundert erste Komödien auf. Dann produzierten sich Schauspielertrupps. Feste Thl?ater

gab es noch nicht. 1742 erst wurde die Lindenoper eröffnet, später ein bescheidenes Theater auf dem Gendannenmarkt. 1786 etablierte sich dort das Nationaltheater, und 1821 wurde unter Schinkels Lei-

F

A

NBI 1987

überzeugte von Aufführung zu Aufführung mehr. Als Felsenstein 1975 starb, waren seine 29 Inszenierungen, vor allem die der Werke Mozarts, Verdis, Offenbachs und Jana~ks. bereits in die Musikgeschichte eingegangen. Und sein Werk wirkt fort, bestätigt sich in phantasievoller Weiterentwicklung (Bild : Aufführung der Händeloper »Giustino«). Nach wie vor sind die Interpretationen der Komischen Oper richtungweisend für die Arbeit anderer Musiktheater des In- und Auslandes.

begründeten Traditionen des Hauses als führendes deutsches Theater wurden in unserer Zeit von Intendanten wie Wolfgang Langhoffund Wolfgang Heinz fortgesetzt.

Fotos: Ber/au, Schöne, Lagenpusch, Archiv

stactt, deren Ruhm - verknüpft mit Namen wie Otto Brahm, Max Reinhardt und Erwin Piscator - internationale Dimensionen bekam. Mit o.stellem wie Eduard von Winterstein, Ekkehard Schall

oder Gisela May, mit Sängern wie Peter Schreier oder Theo Adam setzen seit 1945 Berlins Bühnen - heute sind es 13 Theater mit 27 Spielstätten - diese Traditionen mit Spitzenleistungen fort. SEITE 89



Maske

Mimen

traßentheater ist wieder modern. In der Art umherziehender Schauspielercompagnien des 17. Jahrhunderts

S

sich heute zur Sommerzeit Studenten des jeweils zweiten Semesters der Staatlichen Schauspielschule in den Straßen Berlins, auf Podien unter freiem Himmel zwischen Fernsehturm und Rathauspassage etwa (Bild unten) oder auf der KOpenicker Schloßinsel. Täglich stehen dann vier bis fünf ergötzliche Stückchen auf dem Programm - heitere meist, oft parodistisch und derb -, und ebenso kleine Konzerte, weil auch Studenten der Berliner Musikhochschule mit von der alljährlichen Berliner Kultursommer-Partie sind. Ihr Spectaculum beweist: Auch im Juli/ August gibt's in Berlin keinen „ Urlaub von der Kunst„.

ie Schuchische Gesellschaft gastierte in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Berlin, gut zweihundert Jahre zu früh, um zum Beispiel an den Berliner Festtagen des Theaters und der Musik teilzunehmen, zu denen der Magistrat erstmals im Oktober 1957 eingeladen hatte. Alljährlich sind sie seitdem Magnet für Künstler aus dem In- und Ausland.

D

B erlins

das Deutsche Theater und die Kammerspiele, das Berliner

Theaterlandschaft hat für jeden etwas zu bieten: für die jungen das Theater der Freundschaft und das Puppentheater, für Musikliebhaber Staatsoper, Komische Oper und Metropol-Theater, für Freunde der Schauspielkunst

Ensemble, Maxim

Gorki Theater, Volksbühne und das Theater im Palast, für den, der's locker mag, die Distel und das Ei. , r ist ein Kind des Berliner Theaters und hatte um 1830 mindestens drei Väter: Ekkensteher Nante. Im ehedem höchst populären KOnigstädtischen Theater brachte Karl von Holtei erstmals einen Nante auf die Bühne. Schauspieler Beckmann, der ihn darstellte, schrieb darauf eine Posse um den Eckensteher, und Adolf Glaßbrenner machte ihn dann schließlich als Urtyp aus dem Volke endgültig zu einer Berliner Symbolfigur und damit für alle Zeiten unsterblich.

E

n vieler Hinsicht nicht mehr in den Kinderschuhen steckt ein 1965 in Berlin entstandenes Theater, obwohl es in erster Linie für Kinder spielt. Die Marionetten tanzen, die Stab- und Handpuppen agieren und auch das Schattentheater hat sein Domizil im Puppentheater Berlin in der Greifswalder Straße (nebst zweiter Spielstätte im Kulturhaus des Ernst-ThälmannParks). Das Repertoire ist weit gefächert. Märchen aus aller Welt stehen an der Spitze, es sind auch zeitgemäße Kinderstücke zu finden, eine Berliner PuppenRevue und nicht zuletzt Stoffe aus der Mythologie

I

der VOiker - genug, um auch Erwachsene zu gefesselten Zuschauern zu machen.

L

eute soll es geben, die ins Theater gehen, um seine Tiere zu sehen : Eduard Fischer ist als Berliner Kostümplastiker weltberühmt geworden. Seine Ochsen posieren in »Giustino« (siehe Seite zuvor), seine Kühe aus dem »Purpurstaub<< wurden sogar exportiert, sein »Drache« machte am Deutschen Theater Furore. Oberstes Gebot bei Fischers Arbeiten (auch bei den Masken auf dieser Seite) : sie sollen sich einordnen in die Diktion der Bühnenwerke. Ohne Zweifel setzen sie ihnen Lichter auf.

ranz Biberkopf aus »Berlin Alexanderplatz« war just da zu Hause, wo die Volksbühne nun den DOblin-Roman in einer Bühnenfassung vorstellt : Inmitten einer Proletariergegend war das Theater 1913/ 14 erbaut worden; sein erster Intendant hieß Max Reinhardt, und Erwin Piscator inszenierte dort politischproletarisches Theater. Eine Geschichte, die Verpflichtung ist.

F

Fotos : Guillaume, Fischer, Archiv

NBI 1987

SEITE 90



Sport

Spiele

riedrich Ludwig Jahn konnte nicht ahnen, welche Entwicklung der Sport nehmen würde, aber er war mutig genug, den ersten Schritt zu tun : in Berlin richtete er 1811 den ersten öffentlichen Turnplatz ein.

ndspurt in Berlin das ist immer ein Etappenhöhepunkt der Internationalen Friedensfahrt. Die Stadt empfängt die Radamateure stets herzlich, hat sie doch besondere Beziehungen zum Radsport. Am 7. August 1881 startete hier das erste öffentliche Radrennen (auf Hochrädern), und gut 20 Jahre darauf die Fernfahrt »Rund um Berlin«, die noch heute ausgetragen wird. Bahnrennen sind ebenso noch gefragt: auf der Radrennbahn Weißensee und zur Wintersaison in der WernerSeelenbinder-Halle.

F

E

ie Post geht ab - auf der Trabrennbahn Berlin-Karlsborst ist jeder Renntag ein besonderes Erlebnis für Zehntausende von Besuchern. An über 90 Tagen im Jahr geht es um Sieg und Plätze auf dem einzigen Traberrondell der DDR, das am 1. Juni 1945 nur 23 Tage nach Kriegsende - eröffnet worden war. Heute wird die Sportstätte auch als ganzjährig geöffnetes Naherholungsgebiet geschätzt. Wer allerdings Galopp- und Hindernisrennen vorzieht, muß sieb schon ins unfeme Hoppegarten begeben, dort gibt es dafür eine nicht minder populäre Rennbahn.

D

eder kann mitmachen beim Sport in Berlin. Gelegenheiten gibt es genug: beim Fahrrad-Trial am Volkssportsonntag (Bild), bei Wohngebiets- und Hausfesten, beim Friedens- oder Neujahrslauf. Für Spaß wird garantiert.

J

ußball spielte man in Berlin auch vor 100 Jahren, damals jedoch kaum vor so temperamentvollem Publikum wie heute bei einem Treffen der Lokalmatadore Dynamo und Union.

F

erlin hat am Wasser gebaut. Wen wundert's da, daß dort nach wie vor die Wassersportler eine Hochburg haben. 1876 wurde der erste Berliner Ruderverein gegründet, und

B

NBI 1987

seit 1880 gibt es Regatten. Das damals stinkvornehme Segeln wurde erst ab 1886 populär, als ein Verein Berliner Segler auch »kleine Leutec aufnahm. Gewaltig ist die Zahl derjenigen, die am

port, Spiel und Unterhaltung : im SEZ, dem Sport- und Erholungszentrum an der Leninallee, gibt's alles unter einem Dach. 30 Sportarten stehen zur Auswahl - im Schwimmbecken, auf Eis- und Rollschuhbahnen, in Gymnastik- und Spielballen. Die Kugel rollt beim Bowling und beim Billard, der Ball tanzt über Tischtennis- und Volleyballnetze. Und immer bleibt's ein Spiel, bei dem jeder mitmachen kann. locker auch das Unterhaltungsangebot von der Polar-Disko über Badebälle bis zum Kabarett und zum Chansonabend.

S

Fotos: Moerl, S chulze, Kilian. Behrendt, Archiv

175 000 Berliner Mitglieder, und unzählbar sind die, die sonstwie am Sport Gefallen finden. Berlin hat für sie in 41 Sportstadien und -plätzen, etwa 350 Kleinsportanlagen, rund

400 Sporthallen und mehr als 30 Hallenschwimmbädern und Schwimmstadien, bei nationalen und internationalen Ausscheiden und bei massensportlichen Wettbewerben immer etwas zu bieten. SEITE 91



Motte

Korn cinhändlcr Hopf wettete 1822, daß er ein Bier in der Art des bislang importierten »bayrischen<< Bieres auch in Berlin brauen könne. Er gewann die Wette, gründete in der Fricdrichstraßc 126 eine Brauerei und eröffnete damit den Siegeszug des untergärigen Bieres in der Hauptstadt. Hundert Jahre später war Berlin größte Brauereistadt des Kontinents. Wenn dieser Rang auch heute nicht mehr gehalten wird »Berliner Pilsner« ist ein nach wie vor gefragter Exportartikel. Nicht minder begehrt, doch saisongcbundcn ist das süffige Bockbier, das im Herbst zum Ausschank kommt. Hell oder dunkel der Berliner trinlct's mit Leidenschaft.

W cdc Kneipe, die etwas auf sich hielt, hatte früher ihren »Hungerturm«, einen verglasten Kasten auf dem Tresen, in dem für den mehr oder weniger eiligen Gast zur Molle und zum Korn ein »Happen-Pappen« angeboten wurde. Ein Rollmops etwa, der ebenso wie der Brathering unbedingt zum Sortiment gehörte. Auch das Solei und die Karbonade durften nicht fehlen. Leckerbissen waren die »Schusterjungen«, herzhafte Roggcnmchlbrötchcn, die ganz besonders gut mit Schmalz und

J

W.„

Weizenmalz durch Biere bayrischer und böhmischer Art mehr und mehr von den Stammtischen verdringt. Erst in jüngster Zeit erinnert man sich wieder der Weißen und schätzt sie, besonders an heißen Tagen, als erfrischendes Getränk. Mit und ''"„"-''O&o"" u:h ohne Schuß.

mit Schu8 ist das Leibgetränk der Berliner. Sagt man. Es stimmte unbedingt vor hundert

Jahren. Da trank man Weiße mit

Schuß (mit Himbeenaft) oder u:h mit Strippe (Kümmelschnaps) noch an allen Berliner Ecken. Dann jedoch wurde das leicht säuerliche Weißbier aus Gersten- und Harzer Käse munden. In vielen Gaststätten, die auf berlinische Traditionen achten, erlebt der Hungerturm heute schon eine fröhliche Wiedergeburt. Und wo es möglich ist, erhält der hungrige Gast auch warme Spezialitäten aus der Berliner Küche: Eisbein, Rinderbrust oder Kassler Rippenspeer.

önnlichc Wirtshaussicdlungcn gab es ehedem in Trcptow. Die Berliner waren gute Kunden, sächsische Kolonisten hingegen beim Ausschanlc von Kaffee arge Konlcurrcntcn. Trcptowcr Wirte erwirkten ein Verbot wegen Geschäftsschädigung. Eine Frau

F

icbcn in einem Kartell - dem Ring - vereinte Brauereien Berlins unterstützten 1894 die Aussperrung von 300 Böttchern, die an Feiern zum 1. Mai teilgenommen hatten. Berlins Brauereiarbeiter erklärten sich mit den Gemaßregelten solidarisch und riefen zum Bierboykott auf. Lokale, die Ring-Bier anboten, wurden gemieden. Flaschenbiere aus Ring-Brauereien nicht gekauft. Sieben Monate lang. Dann mußte das Kartell nachgeben.

Taube soll es umgangen haben. Sie bot nun heißes Wasser und leeres Geschirr zur Selbstbedienung. Es wurde ein Riesenerfolg. Bald hieß es überall: »Hier könn' Familien Kaffee kochen!«

S crlinischcs von der Speisekarte (wie es manchmal noch heute zu lesen ist): Bricfträgcrcisbcin = Rollmops; Orchestersuppe "" Erbscncintopf; Piprikaschnatzcl = Paprikaschnitzel ; Gulpopo = Gulasch; Ofenrohr = Roulade; Radfahrcrbccnc = Wiener Würstchen; Ulstcrknöppe = Buletten.

B

Gastronomen traditionsbcwußt sind. Beweise dafür gibt's : die »Zillcstubcn« im Hotel Berlin, das » NantcEck« im Palasthotel, die »Alte Münze« am Alexanderplatz (Bild), viele kleine Gaststätten im Nikolaivicrtcl und anderswo - es macht Spaß, eine Molle zu zischen.

um Nußbaum hieß das Gasthaus mit der Jahreszahl 1507 auf dem Kellerbalken. Zuletzt Treff von Dirnen und Ganoven, hatte es Glück, Heinrich Zille zum Stammgast zu haben. Er machte es berühmt. Die älteste Gaststätte Berlins wurde im Nikolaivicrtcl neu aufgebaut.

Z

Fotos: Guillaume NBI 1987

SEITE 92



Stars

Girls N

autnah erlebt der Gast in der »Kleinen Revue«, dem Nachttheaterehen des Friedrichstadtpalastes, die Stars und Girls bei leichtgeschürzter Kleinkunst, exquisiter Artistik und charmanter Conference auf lockerem Minibrettl (rechts). Ein neues Genre bat damit in Berlin einen Showplatz gefunden, despektierlich und leicht frivol, erinnernd an die Tingeltangel der 20er Jahre und doch modern. Ein Mitternachtsspaß mit Tanz bis in den frühen Morgen.

ichtnurfrivolam Abend ist man in der »Kleinen Revue«, sondern auch theatralisch am späten Nachmittag. Dann nämlich überlassen die

H

K

napp 35 Jahre verbanden den Friedrichstadtpalast mit seiner ehemaligen Spielstätte >>Am Zirkus 1« und dessen wechselvoller Geschichte. 1867 als Stahlgerüst (Bild) auf 863 Pfählen im morastigen Boden gegründet, war das Haus kurze Zeit erste

rtisten, Sänger und Ensembles aus aller Welt waren schon im Weltstadtvariete an der Spree zu Gast. Noch im alten Hause traten z. B. Louis Armstrong, Ella Fitzgerald und Josephine Baker, Juliette Greco und Gilbert Bccaud auf, im neuen Haus gastierten u. a. Caterina Valente, Miriam Makeba, Adamo, Ricchi e Poveri und Udo Jürgens.

A

reifache Premiere gab es am 27. April 1984 in der FriedrichstraBe 107. Das Ensemble des weithin gerühmten Friedrichstadtpalastes stellte seinem Publikum ein neues i>.e-

D

NBI 1987

vueprogramm vor und beging mit ihm zugleich die festliche Einweihung seines neuen Hauses, das mit modernster Ausstattung vor, auf und hinter der Bühne einen Theaterbau internationalen Spitzen-

Markthalle Berlins, dann lange Jahre Zirkus. Max Reinhardt machte es 1919 zum »Großen Schauspielhaus«, anschließend inszenierte Eric ChareU dort großartige Revuen. Damals war das Haus auch Stätte politischer Veranstaltungen der Arbeiterldasse. Künstler wie Erich Weinert, Ernst T.oller, John Heartfield und Erwin Piscator setzten z. B. 1925 die politische Revue »Trotz alledem« in Szene. 1945 begann die Ära des Varietes. Der Friedrichstadtpalast feierte bis 1980 am Sprccufer Triumphe. Dann senkten sich die Grundmauern. Das alte Haus mußte abgerissen wer- - -"'""'den.

Friedrichstra8e. Die 195 000 Kubikmeter seines umbauten Raumes haben das Amphitheater der »Großen Revue« mit 1900 Plätzen zum Mittelpunkt, enthalten das intime Theater der •Kleinen

Damen und Herren der Nachtrevue das Podium zunächst einmal den »Untermietern«, dem Team vom »Ei«, das mit Komödien und Possen, Schwänken und Boulevardstücken, Nonsens und literarisch-musikalischer Unterhaltung ein spezielles Element in das Berliner Theaterleben einbringt. In der sonnigen Urlaubszeit allerdings agiert das "Ei" nicht im Tiefgeschoß des Friedrichstadtpalastes, sondern spielt im Hof des historischen Nikolaihauses in der Brüderstraße 13 zum Sommertheater auf. Natürlich mit Altberliner Lokalgeschichten. Und mit durchschlagendem Erfolg. Fotos : Gutffrov. Stolpmann. Guillaume

ie treiben es auf die Spitze: Ohne die Girls vom Ballett läuft kein Programm. Doch wenn sie ihr Feuerwerk. nach Art des Hauses abbrennen, sind die 24 Meter Bühnenbreite fast noch zu wenig.

S

Revue« (200 Plätze), großzügige Foyers und einen ausgedehnten Funktionstrakt mit allen technischen und sozialen Einrichtungen, die dem Ensemble beste Bedingungen für die Arbeit bieten. SEITE93



Nicht mehr >>Unter fremden Himmeln<< Vertreibung, Exil und Heimkehr nach Berlin

N

ur zwei Wochen nach dem Machtantritt der Faschisten setzte die »Säuberung« der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin ein. Heinrich Mann und Käthe Kollwitz wurden zum Austritt gezwungen. Die secbsundsechzigjährige Graphikerin und Bildhauerin notiert in ihrem Tagebuch : » Am 15. Februar müssen Heinrich Mann und ich aus der Akademie austreten. Verhaftungen und Haussuchungen. Vollkommene Diktatur.« Im April 1933 folgte die faschistische »Säuberung« und Gleichschaltung der Sektion Dichtkunst an der Akademie, der Heinrich Mann seit 1931 vorstand. Alfred Döblin, Leonhard Frank, Georg Kaiser, Bernhard Kellermann, Thomas Mann, Rene Schikkele, Franz Werfe! sowie sechs weitere Schriftsteller wurden ausgeschlossen, dafür faschistische »Blut und Boden«-Autoren unter Vorsitz von Hanns Johst neu aufgenommen. Dieser hatte bereits 1931 in seinem Stück »Schlageter« den programmatischen Satz geschrieben : »Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Browning.« Was folgte, waren Bücherverbrennung, Verbot aller progressiven Künstlerorganisationen, »Säuberung« der Museen, der Verlagsprogramme, Theater und Konzertspielpläne. Viele Geistesschaffende hatten Deutschland bereits nach der Nacht des Reichstagsbrandes und den damit einsetzenden Verhaftungswellen verlassen. Ein in der Geschichte einmaliger »Auszug des Geistes« begann. Tausende Schriftsteller, Journalisten, Musiker, bildende Künstler, Theaterleute und Wissenschaftler die besten Kräfte Deutschlands verließen ihre Heimat, um im Ausland neue Arbeitsmöglichkeiten zu suchen und sich, ungeachtet unterschiedlicher weltanschaulicher Positionen, unter der übergreifenden ·Aufgabe des antifaschistischen Kampfes zu sammeln. Einige blieben in Deutschland (etwa Käthe Kollwitz, Bernhard Kellermann, Erich Kästner oder Günther Weisenborn), wo sie mit Veröffentlichungsverbot belegt, verhaftet oder in eine innere Emigration gezwungen wurden. Die Emigranten aber widmeten sich von der ersten Stunde des Exils an mit den Mitteln ihrer Kunst dem Kampf gegen den Faschismus. Es entstanden Bücher, Kompositionen, Zeichnungen und Gemälde, die sowohl den »Gegenangriff« führten (so der programmatische Titel einer der ersten antifaschistischen Zeitungen des

Exils, die Bruno Frei und Alexander Abusch 1933-1936 in Prag und Paris herausgaben) als auch d ie » Verteidigung der Kultur« (so das Motto des antifaschistischen Schriftstellerkongresses vom Juli 1935 in Paris) vor dem Zugriff der Faschisten in das Zentrum stellten. Verstreut über beinahe den ganzen Erdball - von Moskau bis New York, von Mexico-City bis Shanghai, von Stockholm bis

Anna Seghers

nach ihrer Heimkehr 1947 mitJohannes R. Becher auf einer Tagung des Friedenntes

In dem Maße, wie sich mit dem heldenhaften Kampf der Roten Armee ab 1942 die Wende des zweiten Weltkrieges und die Zerschlagung des Faschismus immer deutlicher abzeichneten, wuchs die Hoffnung der Emigranten auf Rückkehr in ein befreites Deutschland. 1943 notiert Hanns Eisler im fernen Kalifornien auf einem Notenblatt seines Liederzyklus' »Hollywooder Liederbuch<<: »In einer Gesellschaft, die ein solches Liederbuch versteht und liebt, wird es sich gut und gefahrlos leben lassen. Im Vertrauen auf eine solche sind diese Stücke geschrieben.« Doch nicht nur Hoffnung, sondern tätige Mitarbeit an den Konzepten für ein neues Deutschland prägte die Haltung vieler der emigrierten Künstler. Unter den Gründungsmitgliedern des Nationalkomitees » Freies Deutschland« befinden sich im Juli 1943 in Moskau u. a. Johannes R. Becher, Friedrich Wolf, Willi Bredel und Gustav von Wangenheim, als erster Präsident wird Erich Weinert gewählt. Der von hier auf mehrere Exilländer ausstrahlenden Bewegung »Freies Deutschland« schlossen sieb auch in Mexiko, Großbritannien und der Schweiz namhafte emigrierte Künstler an. In den Dokumenten der Jahre 1944/ 45 finden sich neben den Konzepten für die politische und ökonomische Umgestaltung auch weitreichende Überlegungen für den geistigen Neuaufbau

des Heimatlandes. Mit der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus begann ab Mai 1945 in der damaligen sowjetischen Besatzungszone die so lange mit heißem Herzen von allen Antifaschisten herbeigesehnte Errichtung einer neuen, antifaschistischen Ordnung. Berlin wurde zum Zentrum des kulturellen Neuaufbaus.

D

aran hatten aus dem Exil heimkehrende Künstler ebenso maßgeblichen Anteil wie Überlebende der faschistischen Konzentrationslager und Zuchthäuser. Am 3. Juli 1945 fand die Gründungsversammlung des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands statt, zu dessen erstem Präsident Johannes R. Becher gewählt wurde. Am 18. August 1945 erfolgte die Gründung des Aufbau-Verlages, in dem in der Folgezeit die wesentlichen Werke der Exilliteratur erschienen. Gustav von Wangenheim, später Wolfgang Langhoff übernahmen die Leitung des Deutschen Theaters. 1946 erfolgte die Gründung der DEFA, die mit ihren ersten Filmen eine bis beute wirkende antifaschistische Tradition begründete. 1948 gründeten Bertolt Brecht und Helene Weigel das Berliner Ensemble, das am 11 . Januar 1949 im Deutschen Theater erstmals »Mutter Courage und ihre Kinder« aufführte. Als 1949 die Deutsche Demokratische Repu-

Buenos Aires - entstand nunmehr die eigentliche deutsche Kunst der Jahre 1933 bis 1945 beinahe ausschließlich »Unter fremden Himmeln<<, wie F. C. Weiskopf seinen 1946 geschriebenen Abriß der deutschen Literatur im Exil genannt hat.

A

nna Segbers schrieb 1939/ 40 in Frankreich » Das siebte Kreuz«, das Buch erschien erstmals 1942 in Mexiko und den USA; Heinrich Manns »Henri Quatre«-Romane entstanden zwischen 1934 und 1937 in Frankreich ; Hanns Eisler komponierte ab 1938 in den USA seine »Deutsche Sinfonie« ; in Moskau entstand 1936 Willi Bredels Roman »Dein unbekannter Bruder«; John Heartfield schuf ab 1933 in Prag neue antifaschistische Fotomontagen für die nun im Exil weiter erscheinende »A-1-Z«; Wolfgang Langhoff spielte 1941 in der Züricher Uraufführung von Brcchts 1939 in Schweden entstandenem Antikriegsstück » Mutter Courage und ihre Kinder« .

Bettolt Brecht, Riickkehr nach Deutschland zusammen mit Helene Weigel, Oktober 1948 NBI 1987

SEITE 94



blik entstand, schufen zwei aus der Emigration Heimgekehrte ihre Nationalhymne: Johannes R. Becher und Hanns Eister. Aus Kalifornien schrieben Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger am 14. Oktober 1949 einen gemeinsamen Brief an den ersten Präsidenten des neuen deutschen Staates : Lieber, sehr verehrter Präsident Wilhelm Pieck, / Erlauben Sie uns, Ihnen und dem Kanzler Otto Grotewohl unsere herzlichsten Wünsche auszusprechen. Wir brauchen Ihnen nicht zu versichern. mit welch tiefer Teilnahme wir das Schicksal der jungen Republik unter Ihrer beider Führung verfolgen./ In aufrichtiger Verehrung / Heinrich Mann Lion Feuchtwanger.«



Arnold Zwrig {/.) und AJeander Abusch auf dem 2. Kongre8 des Kulturbundes, 1949

E

iner der ersten Beschlüsse der Regierung der DDR war die Neugründung einer »Deutschen Akademie der Künste«, zu deren erstem Präsidenten programmatisch Heinrich Mann berufen wurde. Dieser nahm Ende 1949 das Amt an, jedoch verhinderte sein Tod am 12. März 1950 die Heimkehr nach Berlin. So wurde am 25. März 1950 Arnold Zweig zum Präsidenten berufen, der aus dem Exil in Palästina nach Berlin zurückgekehrt war. Für ihn war die ehemalige Wirkungsstätte der Jahre bis 1933 nun ebenso wieder zur geistigen Heimat geworden, wie für Brecht und Becher, Eisler und Dessau, Bredel und Uhse, Heartfietd und Lingner - um nur einige Namen zu nennen. Hier wurde verwirklicht, wofür sie alle in den zwölf Jahren der faschistischen Nacht fern von Deutschland mit ihrem Wort, ihrer Musik und ihren Bildwerken gekämpft hatten. Dr. Jürgen Sche~ra Fotos: Gerhard Kiesling, BV-Archiv NBI 1987





Als erste ging Frida Wesolek, fiinfundfünfzig, Näherin, Kommunistin. Da zeigte die Uhr neun Minuten nach sieben. Als letzte starb Liane Berkowitz, Schülerin, Katholikin, neunzehn Jahre alt. Da war es ein viertel vor acht. Am Abend dieses 5. August 1943 ließen innerhalb einer halben Stunde dreizehn Berliner Frauen auf dem Schafott in Plötzensee ihr Leben.

SEITE 98





ie penibel geführten Akten der Henker vennerken zum letzten Gang einer jeden der Frauen das Wort : »Gefaßt«. Ein einziges Wort - doch wieviel Kraft steht dahinter und wieviel Menschenwürde. Da geht als erste Frida Wesolek. Und als sie geht. weiß sie, daß ihr Mann und ihr 8 ljähriger Vater wenige Minuten vor ihr den gleichen Weg zur gleichen Stätte hatten. Da steht Marie Terwiel vor dem Scharfrichter. Und vergebens haben die Eltern, die Kinder zu retten, durch gefälschte Papiere die jüdische Familie »arisiert«. Da wird Rose SchlOsinger in den Hinrichtungsschuppen geführt. Und sie folgt nun ihrem Mann, der sich das Leben genommen, als er erfuhr, daß seine Frau zum Tode verurteilt ist. Da schlägt die Stunde für Hilde Coppi. Und sie hätte sich gewünscht, diesen letzten Weg gemeinsam mit ihrem „großen Hans« gehen zu können, der im Dezember 1942 hingerichtet wurde. Und sie sorgt sich in ihrem letzten Brief um den „kleinen Hans«, den sie im Gefängnis gebar. Da greifen die Henkersknechte Ingeborg Kummerow. Und sie stirbt mit dem Wissen, daß ihr der Mann aufs Schafott folgen wird, daß die beiden kleinen Kinder bald Vollwaisen sein werden. Da kommt als letzte die jüngste, Liane Berkowitz, in die Richtstätte. Auch sie hat im Kerker ein Kind geboren, und man hat es ihr sofort genommen. In dieser Abendstunde fällt. wie so oft in PIOtzensce, das Beil im Abstand von Minuten : 19.09 Uhr Frida Wcsolek, Näherin, Kommunistin; 19.12 Uhr Ursula Goctze, Studentin, Kommuni tin ; 19.15 Uhr Marie Terwiel, Telefonistin, parteilos, Jüdin; 19.18 Uhr Oda Schottmüller, Tänzerin, pirteilos; 19.21 Uhr Rose SchlOsinger, Sekretärin, Kommunistin; 19.24 Uhr Hilde Coppi, Angestellte, Kommunistin; 19.27 Uhr Klara Schabbel, Stenotypistin, Kommunistin; 19.30 Uhr EI e Imme, Abteilungsleiterin, parteilos; 19.33 Uhr Eva-Maria Buch, Assistentin, parteilos, katholisch; 19.36 Uhr Anna Krauss, Geschäftsfrau, parteilos; 19.39 Uhr Ingeborg Kummerow, Sachbearbeiterin. parteilos; 19.42 Uhr Cato Bontjes van Beek, Keramikerin, parteilos, evangelisch; 19.45 Uhr Liane Berkowitz, Schülerin, parteilos, katholisch. Für dreizehn Frauen der »Roten Kapelle« - ein Codewort der Häscher, das zum Ehrennamen wird - neigt sich an diesem 5. August mit dem Tag das Leben zum Ende. Manche ihrer Liebsten, Freunde, Genossen, Mitkämpfer waren schon vor ihnen gegangen, andere müssen ihnen noch folgen. 31 Männer und 18 Frauen dieser bedeutenden Widerstandsorganisation, in der Arbeiter und Künstler, Kommunisten und Christen sich zusammengeschlossen hatten, den Faschismus zu stürzen, den Krieg zu beenden und ein neues, besseres Deutschland zu erbauen, starben in PIOtzensee, in Brandenburg, in Halle und auf dem Schießplatz in Tegel. Zweimal hunderttauend deutsche Männer und Frauen fielen im Kampf gegen die faschistische Diktatur. Berlin war ein Zentrum des Widerstandes: Die Mitglieder der illegalen Gruppen der KPD, Sozialdemokraten und bürgerliche Antifaschi ten, Männer und Frauen des 20. Juli 1944 um Claus Graf Schenk von Stauffenberg - sie handelten als Patrioten, weil Veranwortung füi das Schicksal ihres Volkes und ihr Gewissen es geboten. Eine jede der Frauen, vermerkten die Henker auf ihren Vordrucken, sei »gefaßt« in den Tod gegangen. „Ich liebe da Leben«, hatte die 22jährige Cato Bontjes van Beek in einem Brief aus dem Kerker ge chrieben, und : »Nur leben will ich, leben!<< Aber auch das ist eine der Zeilen : »Ich habe nicht um mein Leben gebettelt.« Volbr Schi~lk~ SEITE 99

ast 6000 Werkzeugmaschinenbauer sind allein im Weißenseer Stammbetrieb und in der zum Kombinat gehörenden Berliner Werkzeugmaschinenfabrik (BWF) beschäftigt. Doch das Kombinat selbst ist noch viel größer. Insgesamt 22 000 Werktitige zählt es. Seine Betriebe finden sich u. a. in Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Dresden und Magdeburg. Spezialität der Berliner dabei : Zahnflanltenschleifmaschinen in Weißensee sowie Innenund Außenrundschleifmaschinen in der BWF. Jahrzehntelange Entwicklungsarbeit steckt in diesen Maschinen. Ihr Niveau genügt höchsten intemlltionalen Ansprüchen. Für die Berliner Werkzeugmaschinenbauer spricht die Tatsache, daß heute bereits mehr als die Hälfte aller Maschinen mit mikroelektronischen Steuerungen ausgerüstet werden. 1990 sollen es dann 90 Prozent sein. Wie man überhaupt im Kombinat auf die Schlüsseltechnologien setzt, Mikroelektronik, Roboter- und Computertechnik für die eigene Fertigung nutzt und seine Erzeugnisse damit versieht. Vorteile, die bei Produzenten und Anwendern gleichermaßen zu Buche schlagen. Mit Erfolg gehen die Berliner Werkzeugmaschinenbauer neue Wege. Ein Beispiel dafür ist die im Stammbetrieb entwickelte und gebaute StirnradwälzschJeifmaschine, die erstmals über ein mikroelektronisches Getriebe verfügt. Zwei von vielen Effekten dabei : über 1000 Bauteile fallen weg, das erspart pro Maschine eine Tonne Stahl und Guß. Der Fertigungsaufwand verringert sich um etwa 400 Stunden. Das Kombinat hat sich in den letzten Jahren immer mehr zu einem Produzenten flexibler Fertigungslinien profiliert. Sie arbeiten heute in einigen Betrieben der DDR (u. a. im Dresdner Elektromotorenwerk, wo auch unser Foto entstand), aber auch in Unternehmen des Auslands. Größter Abnehmer ist dabei die Sowjetunion. Der Bau flexibler automatisierter Fertigungsabschnitte und Maschinensysteme für das Inland und den Export stellt völlig neue Ansprüche an die Arbeit der Maschinenbauer. Mit Zuversicht gehen sie an ihre Aufgaben. Achim Rother, seit über 20 Jahren Monteur in der Berliner Werkzeugmaschinenfabrik. ist sich sicher, daß sie die Mikroelektronik und Computertechnik auch künftig meistem werden. »Natürlich«, sagt er, »sind solche Schlüsseltechnologien für uns ein harter Brocken, weil

schine ist mehr als nur ein technisches Produkt. Sie kündet von der Leistungsfähigkeit des Betriebes und des gesamten Landes. Hi ufig werde ich nach dem Leben in der DDR gefragt, was wir geschaffen hU>en und was wir uns weiter vornehmen. Ich erzähle dann nicht nur von meinem Betrieb, sondern zum Beispiel auch von unserem neuen Stadtbezirk Marzahn. wo mittlerweile über 150 000 Menschen in modernen Wohnungen leben. Und daß wir mit unserer Arbeit dazu beigetragen haben.« Für Achim Rother sind solche Gespräche wichtig. Manches gehe ihm dabei durch den Kopf. Gerade jetzt, da Berlin sein 750jlhriges Jubiläum feiert. »Unsere Stadt hat in den letzten vierzig Jahren einen Entwicklungsabschnitt durchlaufen, der der lebendigste, interessanteste und menschlichste in ihrer Geschichte war. Und wenn ich sehe, was wir uns in Berlin und im ganzen lande für die Zukunft vorgenommen haben, dann wird mir unsere Verantwortung klar. Wir Berliner Werkzeugmaschinenbauer haben dafür zu sorgen, daß >made in DDR< stets und überall in der Welt seinen guten Klang behält.« Steff~n Uhlmann Fotos: K. H. Kra~mu (Far#H), E. Klöppel, Th. Neumann , B Y-Archi11

F

sie den klassischen Maschinenbau verlndern. Ums Lernen wird also keiner herumkommen. Doch Furcht davor haben wir nicht. Schließlich verliert in unserem Land niemand durch neue Technik seinen Arbeitsplatz. Im Gegenteil, wir wissen aus Erfahrung, daß wachsende Leistungen jedem von uns zugute kommen. Und gerade dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen.« Der erfahrene Monteur weiß nur zu gut, wovon er spricht. »Was letztlich beim Kunden zählt, ist Qualität und Produktivität unserer Maschinen. Sie

müssen zuverllssig sein, und der Service muß klappen. zu jeder Stunde und an jedem Tag.« Als Kundendienstmonteur erfährt Achim Rother ganz unmittelbar, wie die Leistungsflhigkeit seines Kombinats beim Kunden bewertet wird. Seine Hinweise, Vorschläge und Ideen fließen darum direkt in die Arbeit von Forschung und Entwicklung ein. Ober 25 Neuerervorschllge hat er bereits unterbreitet. »Noch etwas anderes«, sagt er, »habe ich durch meine Arbeit im Ausland gelernt. Eine Werkzeugma-



Hattmut Berlin sah sich um

„ Gestatten,

unter seinen Namensrettem

~W~e~r~i~n~B~e~r~li~n~w~o~h~n~t~u~n~d~z~u~-~~c~b~~~s~o~g~c~rn~,a~l~w~li~~~e~n~d~-~~~~~~~~~-dcm auch noch so heißt, ist sich des Privilegs, das ihn aus der Masse Hunderttauscndcr Berliner Bürger heraushebt, natürlich voll bewußt.

Aber wir Berliner Berlins machen davon nicht viel her. Es sind immer die anderen. »Und Sie heißen wirklich Berlin? Genau wie unsere Stadt?« - »Ich möchte nicht wissen, wo Sie herkommen, sondern wie Sie heißen. Was!« Bewunderung von ganzem Herzen und unverhohlener Neid begegnen uns, wo auch immer wir namhaft in Erscheinung treten. Wir winken in unserer bescheidenen Art ab. »Ein Name wie jeder andere auch«, sagen wir. Das ist, zugegeben, nicht die ganze Wahrheit. Nicht einmal die halbe. Tauschen würden wir um keinen Preis. Mit niemandem. Keiner von uns vermag sich ein Leben als Schulze, Müller oder Lehmann vorzustellen. Insbesondere Damen unserer Berliner Namensfamilie, die sich im heiratsfähigen Alter beziehungsweise Stadium befinden, sehen sich ständig der Gefahr ausgesetzt. ihren guten Namen zu verlieren. Petra B. wurde aus Berlin nach Woltersdorf bei Bernau weggeheiratet. Sie trägt heute den Namen Waldschmidt. Ihr Ehemann ist Förster, und um nichts in der Welt wollte er sich von dem berufsbezeichnenden Namen Waldschmidt trennen. Bei genanntem negativen Beispiel handelt es sich jedoch um eine Ausnahme. Zugänge zu unserer Gemeinschaft der Berliner Berlins sind die Regel. Christei B. wurde infolge Heirat eine Berlin und trennte sich liebend und NBI 1987

gern, von ihrem Geburtsnamen Nescmann. Britta Barbara B. ( 19) wurde anhaltend von einem Nichtberlin umworben. Sie erlag den Werbungen, gab ihrem Künftigen jedoch rechtzeitig zu verstehen, der Weg in den sogenannten Hafen der Ehe führe nur über eine Namensänderung seinerseits, »sonst spielt sich gar nichts ab«. Unserer Berliner Namensfamilie gehören derzeit über zweihundert Mitglieder beiderlei Geschlechts und unterschiedlicher menschlicher Reife an. Wir Berlins durchdringen alle wichtigen Bereiche von Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik der Hauptstadt. Mit einem Wort : Wir sind überall. Zum Beispiel haben wir eine Programmiererin im Werk für Fernsehelektronik, einen Baumaschinisten im VEB Baukombinat Köpenick, einen Medizinstudenten an der Humboldt-Universität, einen Artisten beim Zirkus Berolina (natürlich Berolina!), einen promovierten Diplomwirtschaftler in einem Ministerium, einen Schausteller auf Rummelpläizen der Stadt, einen Autor beim Eulenspiegel und Schüler, Schüler und nochmals Schüler sowie diesen und jenen an weiteren Brennpunkten des gesellschaftlichen Lebens. Wir Berliner Berlins stammen überwiegend, und das wird jetzt viele Menschen mit einem, sagen wir mal Dutzendnamen sehr überraschen - wir stammen in der Mehrheit nicht aus Berlin. Und so gesehen sind wir für die ethnische Zusammensetzung der Berliner Bevölkerung repräsentativ. Der

Volksmund nennt solche Berliner bezeichnenderweise Rucksackbcrliner. Die nächste Überraschung:

Wir Berliner Berlins sind nicht sämtlich durch Familicn- oder andere Bande miteinander verbunden. Zu beobachten ist allerdings, daß viele von uns aus Gebieten nördlich Berlins zurcistcn. Aus der Uckermark und aus Mecklenburg beispielsweise. ln den Geburtsurkunden unserer Eltern und Großeltern stehen Orte wie Templin, Siggelk.ow, Zarrentin oder Finow. Auch Leipzig natürlieh. Elsbcth B., geborene Gentz, kam vor dem Krieg im zarten Alter von neun Jahren zu einer Zeit nach Berlin, als die Mädchen Bubikopf trugen. Sie lernte im damaligen Kaufhaus Hertie in der Chaussccstraßc Verkäuferin und erinnert sich daran, daß man damals als Verkäuferin »ganz schön flitzen und springen mußte, und wehe, wenn man mal pampig zu den Kunden wurde, dann wurde man gleich gefeuert«.

Martin B. wurde in Greifswald geboren und suchte später als Berliner den Makel seiner Geburt durch die Heirat mit einer gebürtigen Berlinerin wettzumachen. Es gelang ihm. Beide, seine Frau und er, leisteten in der Folgezeit Großartiges für den Zuwachs der Berliner Berlins. Ihre fünf Söhne wurden in der Hauptstadt geboren und setzen die Familientradition erfolgreich fort. Martin B. ist vierfacher Opa. Bis jetzt. Die Jungs haben Reserven noch und no~h, meint er. Auch beruflich gibt es für Martin B. Reserven zu entdecken. Er ist einer der leitenden Produktionsorganisatoren im Fernsehen der DDR, dessen Zentrum nicht etwa in Suhl oder

naturhch m Berhn. Der Meck.lenburger Bernd B. folgte dem Ruf seines Jugendverbandes und kam mit der Berlin-Initiative der FDJ sowie dem Zug aus Hagenow in die Hauptstadt. Als gelernter Fernmeldemechanik.er hatte er alle Hände voll zu tun bei der Verlegung und Instandsetzung von Telcfonanschlüssen. Er wohnte zur Untermiete. Seine Wirtin hatte eine Tochter. Sie war ihm von allen in Frage kommenden Berlinerinnen von Anfang an am nächsten. In der Berlin-Initiative des Mccklcnburgers entstanden nicht nur zahlreiche Telcfonanschlüsse, sondern auch der berlingebürtige Sohn Robert. Die drei bewohnen eine Reko-Wohnung (rekonstruierte Wohnung nach dem Prinzip aus alt mach neu) und hoffen auf einen eigenen Telefonanschluß. Frank B. sieht sich als Urberliner, obwohl auch er nicht in Berlin geboren wurde. Seine Ursprünglichkeit leitet er von seinem Anteil am Aufbau der Stadt her. Der gelernte Maurer und heutige Hauptdirektor für Material- und Lagerwirtschaft im Berliner Wohnungsbaukombinat könnte auch als Stadtführer tätig sein. Seine Spur der Steine reicht vom Berolina-Haus (!) über die Charite, den Pionierpalast bis tief in den Stadtbezirk. Marzahn hinein. Um hier nur einige herausragende Bauwerke zu nennen. »Es gibt kaum eine Baustelle, an der ich nicht mitgearbeitet habe. Ich bin aus dem Sprint nicht herausgekommen. Erst 1977 haben wir in Marzahn den ersten Grundstein gelegt. Oder nehmen wir Kaulsdorf. Als Piepet habe ich mit meinem Großvater auf den Wiesen Heu gemacht. Heute stehen da Häuser. Wer hätte je gedacht, daß nach Kaulsdorf mal eine U-Bahn fahren wird.« Frank B. wohnt mit seiner Familie in der 22. Etage eines Hochhauses, und sein Überblick. gestattet ihm die Aussage : »Die Stadt ist unglaublich gewachsen.« Immer, wenn wir Berlins vom Leben in unserer Stadt sprechen, ist die Rede vom Umziehen und von neuen und noch neueren Wohnungen. Rainer und Bettina B. hatten

ihre erste Wohnung in einem Uraltbau in der Stargarder im Stadtbezirk Prenzlauer Betg. Das sagt alles. Über damals. Die zweite Wohnung war schon »Luxusklasse«, weil mit IWC und Bad. Ihre Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft verschaffte der inzwischen vierköpfigen Familie eine 4-Raum-Wohnung im Thälmannpark.. Wohnen und Wohlfühlen in Berlin, so sagen sie im modernen Sprachgebrauch, waren für sie immer eine Einheit. Im Thälmannpark ist für sie jedenfalls Endstation. Wohnungsmäßig. Was sie allerdings nicht davon abhält. an Wochenenden, wenn es Wind und Wetter sowie andere Unbilden der Natur erlauben, blitzartig die Stadt zu verlassen, um ein Plätzchen im ganz Grünen aufzusuchen.

Auch diese Angewohnheit teilen wir Berliner Berlins mit den vielen wenig~r namhaften Hauptstadtbewohnern. Wir sind überhaupt für ausgleichende Gerechtigkeit und haben nichts gegen ein Zusammenleben in einer Hausgemeinschaft oder ein friedliches Nebeneinander in einer Reihenhaussiedlung mit Bürgern, die - meist ohne eigenes Verschulden Schulze, Lehmann oder Müller heißen. Wir sind ausgesprochen tolerant. Auch in diesem Jahr, in unserem 750. Jahr, stört es uns keineswegs, wenn man uns anerkennende Pfiffe nachschickt und ausruft : 0 la Ja, Berlin, Hauptstadt der DDR! Oder wenn Witzbolde ulken : Mensch, 750. Geburtstag! Das sieht man dir gar nicht an. Uns macht das nichts aus. Wir haben gelernt, mit unserem hauptstädtischen Namen zu leben. Und das nicht schlecht. Zeichnungen: Barbara Tucholke SEITE 103



l'farrer

Helmut Orphal

Das Licht sei ein Zeichen

Begegnungen in Sankt Marien o frei hat sie früher nie gestanden. Wie fast jede Kirche, nahm sie sich im engen Kranz der kleinen Häuser mächtig aus. Heute ist sie weithin sichtbar; in Nachbarschaft des sie an Höhe überflügelnden Fernsehturms, umrahmt von Wohn- und Geschäftsbauten. Die Marienkirche - reizvoller Kontrapunkt der Stadtlandschaft. Hinter dem hohen Westportal des mehr als 700jährigen gotischen Baus zieht sich in der Turmvorhalle ein mittelalterliches Fresko über die linksseitigen Wände. »Die meisten Menschen gehen nichtsahnend an diesem einzigartigen Kunstwerk vorbei, weil sie direkt auf das Kirchenschiff zusteuern«, sagt Pfarrer Orphal. Dabei mißt der Berliner Totentanz immerhin 22 Meter. Er ist heute das einzige nahezu vollständig erhaltene Wandbild dieses Sujets in Europa. Auf dem halbkreisförmig verlaufenden Fries schreiten Vertreter geistlicher und weltlicher Stände, von Leichnamen mit dem Bahrtuch geführt, um das Kreuz christlicher Erlösung. Wer an dem Fresko vorübergeht schließt gleichsam selb t diesen nach einer Seite offenen Reigen - der magische Totentanz zieht jeden Sterblichen in seinen Kreis. In den Pestjahren um 1480, mutmaßlicher Anlaß der Entstehung des Frieses, flüchteten viele Berliner in die Kirche. Draußen spielte die Seuche zum Tanz des Verderbens auf, erfaßte die Menschen oho' Ansehn der Geburt. Unter dem gemalten Kartäuser-Mönch mahnt ein Begleitvers »Sterben ist das gemeine Recht, sterben müssen beide, Herr und Knecht.« Pfarrer Orphal meint, daß der im Klima bevorstehender Reformation und frühbürgerlicher Revolution geschaffene Berliner Fries auch nach über 500 Jahren dem Betrachter viel zu sagen habe. »Ich denke, daß dieser Totentanz nicht das Ende, son-

S

dem das Leben predigt, wie es in ei- 1 Wer weiß schon, daß St. Marien das nem Gebet Moses' heißt: >Lehre uns einzig bedeutende Bauwerk des Zenbedenken, daß wir sterben müssen, trums von Berlin ist. welches das Inauf daß wir klug werden.c Klugheit femo des Weltkrieges unzerstört gleich Fähigkeit. miteinander leben überstanden hat? Damals im Kriege, zu können und zu wollen : Christen als die Schwesterkirche St. Nikolai mit Atheisten, Weiße mit Schwarzen, unterging, wimmerten noch im alle Menschen dieser Welt. Wenn Hitzewirbel deren Glocken, ehe sie wir bedenken, daß wir einmal ster- schmolzen. Heute ist von den unsägben müssen, wird uns das Leben um liehen Zerstörungen im neuen Stadtso kostbarer erscheinen. Deshalb zentrum nichts mehr zu sehen. sollten wir jeden Tag nutzen, hier »Aber gegenwärtig ist das alles und jetzt. mit guter Arbeit für den schon wieder bedroht«, sagt der Frieden! Im Sinne eines Wortes des Pfarrer, »bedroht durch die ungePropheten Jeremia : >Suchet der heure Vermehrung der VemichtungsStadt Bestesc.« potentiale, bedroht vom Sternen-

kriegsprogramm der USA. Das ist wider die heilige Gabe des Lebens. Wir Christen stehen hinter den unermüdlichen, von Vernunft und Verantwortung getragenen Friedensbemühungen unseres Staates, der mit Besonnenheit handelt.« Pfarrer Orphal zündet eine Kerze an. »Das Licht will ich als Sinnbild des Lebens verstanden wissen. Es soll auch ein Zeichen sein, daß diese Kirche kein Museum ist, sondern Mittelpunkt und Versammlungsstätte einer Gemeinde unserer Zeit, einer Gemeinde, die im Sozialismus mit Liebe und Phantasie ihren Raum ausfüllen kann. Und so wirken wir mit für die höchsten Ideale unserer Gesellschaft, für Frieden und soziale Gerechtigkeit, weil sie der christlichen Ethik entsprechen.« Licht durchflutet die hohe Kirchenhalle, die heller ist als andere gotische Schiffe. Ihre zum Kreuzrippengewölbe aufstrebenden Bündelpfeiler strahlen Eleganz aus. »Dieser Raum ist wie ein Festsaal. Ich liebe ihn. Und ich bin froh, hier predigen zu können.« Ober dem Kopf des fast zwei Meter großen Pfarrers soll der engelbekrönte Schalldeckel der Kanzel die Stimme des Predigers verstärken. Aber das hat die des Helmut Orphal gar nicht nötig. Zudem besitzt St. Marien eine fabelhafte Akustik. Hier Oratorien von Bach zu erleben - ein Fest für die Ohren 1 Das Echo klingt in verschiedenen Stufen nach, von den Erbauern so gedacht, daß Ton und Wort widerhallen und sie fahren mögen aus dem Raume in die Unendlichkeit. Am Totentanz vorbei in das Leben vor dem Tore. »Suchet der Stadt Bestes«, wiederholt der Pastor in der Predigt den Propheten. Und das Beste ist der Friede. Friede diesem Berlin. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Bt!md Hahlwq Fotos: Ht!inz Dargt!lis

Ausschnitt aus dem Berliner Totentanz: Ein geistlicher Richttr (li.), ein Augustiner und dazwischen ein tanzender Tod. In den Venen wird frühbürgerliche Kritik an den Zeitzustinden laut. NBI 1987

SEITE 104





ine Wüste! - so nannten die zeitgenössischen Schriftsteller das Kurfürstentum Brandenburg nach dem Dreißigjährigen Kriege. Der damalige Herrscher, militärisch völlig hilflos, hatte sich baJd der kaiserlich-habsburgischen, bald der schwedischen, baJd überhaupt keiner Politik angeschlossen, und so zählte die Marlt Brandenburg zu den am meisten verwüsteten Gebieten Deutschlands. Zur Kriegsgeißel gesellten sieb Hungersnöte und Seuchen, so daß um die Mitte des 17. Jahrhunderts das Land beinahe nur noch die Hälfte seiner Einwohner zählte, die Residenz Berlin noch nicht einmal ein Drittel. Friedrich Wilhelm, hobenzollernscher Erbe dieser Konkursmasse, überlegte >>wie Unsere durch bisherige langwierige Kriegsunruhen an Einwohnern und Mannschaft sehr entblösete und desolierte Lande binwieder mit Volk besetzet und selbige dadurch in mehreres Aufnehmen gebracht werden könnten.« Die Kameralisten rechneten ihm vor, daß selbst bei weitgehender Förderung von Heiraten und Geburten es mindestens zweier Generationen bedürfe, bis die Marlt Brandcoburg die . alte Zahl an Einwohnern haben könnte, und Sachsen beispielsweise würde dann immer noch dreimal mehr Menschen pro Quadratmeile haben, Frankreich gar viermal soviel. Aber Menschen - das war doch der wicltJiche Reichtum eines Landes, das waren Produzenten, Steuerzahler, Soldaten. Soldaten sollten den von der Memel bis zum Rhein zerfaserten Besitzstand der Hohenzollern schützen. Dabei war passives Bewahren des Ererbten gar nicht Ziel des gedrungenen, aber ehrgeizigen Mannes. Mit dem ersten stehenden Heer gab Kurfürst Friedrich Wilhelm dem Hause Hohenzollern ein Instrument, mit dem es mehr als 250 Jahre lang europäische Politik, oft blutige Politik, machte. Den Bedürfnissen dieses Machtmittels, der Stlrltung des absolutistischen Staates überhaupt, dienten solche Entscheidungen: Man lud friesische Bauern und holländische Meier zur Ansiedlung ein, man übersprang das einhundertjährige Siedlungsverbot für Juden und man bot 20 000 verfolgten Hugenotten eine neue Heimstatt. Die Hälfte dieser Zuwandernden waren Textilproduzenten, Garner und Zwirner, Weber und Wirker, Sticker und Schneider. Diese Gewerke gehörten seit langem zu den wichtigsten der Mark, ihre Meister saßen seit jeher im Berliner Magistrat.

E

SEITE 106

Die Kunstfertigkeit insbesondere hugenottischer Handwerker und Manufacturiers fand in Friedrich 111., Nachfolger in der brandenburgischen Kurwürde, einen verständigen Konsumenten. Sein Hof verzehrte für Tausende Pasteten und Braten, Schokolade und französischen Wein. Allein die Rechnung des Hofkonditors weist für das Jahr 1701 5144 Taler aus, eine Summe, die den Lebensmittelbedarf von 150 Berliner Familien für ein ganzes Jahr befriedigt hätte. Auch der Wert der begehrten Allongeperücken, der seidenen Strümpfe und der silber- und golddurchwirkten Westen ging in die Tausende und Abertausende. Die Krone, die sich Friedrich in Königsberg aufs Haupt setzte, kostete das Land nicht nur die Unterordnung unter die habsburgische Kaiserpolitik. Die Ausgaben am Berliner Hof schnellten noch mehr in die Höhe. Mußte doch selbst der Hofzwerg seinen silberverzierten Kittel mit einer goldverbrämten Livree vertauschen. Den Wert seines Galaroltlces, ließ der nunmehrige König Friedrich 1. selbstgefällig durchblicken, schätzten Sachverständige auf eine Million Taler: Friedrich 1. spielte Sonnenkönig. Doch BrandenburgPreußen war nicht Frankreich, der Staatsbankrott war somit unausweichlich. War es ein Glück für das Land, daß der Nachfolger wie ein biederer Hausvater daherkam? Friedrich Wilhelm 1. strich den Hofetat auf 20 Prozent zusammen. Doch nicht nur Minister und Pagen, Federschmültlter und Livreebewahrer verloren ihre Posten, auch die vielen Gewerke, die der Luxusproduktion gedient hatten, gingen ihrer Existenzgrundlage verlustig. »Geld muss im Lande bleiben.« war Friedrich Wilhelms Muime, und er verbot die Ausfuhr einheimischer Rohstoffe, den Import

Das Potsdamer Einladungsedikt für mfolgte frlnzösische Protmanten .,. Grundlage für die Einnnderung t01 20 000 Hugenotten

Aufsicht angekurbelt werden. Im Haus zum Schwarzen Adler, der ehemaligen Wohnung der Kurfürsten in der Klosterstraße, entstand das »Lagerhaus«, Modell einer preußischen Staatsmanufaktur. Hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm mit dem stehenden Heer die Macht der alten Obristen beseitigt und sich die ersten eigenen Untertanen geschaffen, so sollte nun, wer des Königs Soldat war, auch des Königs Rock tragen. Friedrich Wilhelm verschmähte den Pomp der französischen Mode und lief tagein, tagaus selbst in Uniform. Kurz nach Eröffnung des Lagerhauses im Jahre 1714 erging der Beschluß, daß den Regimentern eine einheitliche BeltJei-

Eine Prämie m 100 Ta/em für das erste ,,_in Berlin nicht mit der Hand erzeugter Strümpfe! Einwandt!rnde Franzosen produzierten wauf dem Strumpfwirkstuhl en mme ausländischer Produlcte. Statt die Wolle nach Sachsen oder Flandern auszuführen und teures Geld für Tuche in jenen Ländern zu lassen, sollten die Rohstoffe jetzt hier verarbeitet werden. Während man die Leinen- und groben Wolltuche dem platten Lande überlassen konnte, mußte die anspruchsvolle Produktion sogenannter spanischer oder Londoner Tuche unter staatlicher

dung zur Verfügung gestellt werden sollte. Nicht das bunte Zeug der verschiedenen Compagnien war erwünscht, sondern der preußischblaue Rock. In der Kanzlei des Majors von Massow wurden die Uniformen entworfen. ein gewisser Stender, Schneider auf dem Berliner Werder, nähte Proben, und die mit Armeesiegel gekennzeichneten Uniformen galten als verbindliche Muster. Nun sa-



ßen Hunderte Schneider und Näherinnen, um die Armee alle zwei Jahre, seit 1725 sogar jedes Jahr, zum einheitlichen Montierungstermin mit einheitlichen, mustergerechten Uniformen zu versehen. Und im zivilen Leben sollte alles nach dem alten Schlendrian geben 1 »Sollen Zeug tragen! Und nicht Cattun!« hieß es von oben. Kattun und Zitz, leichte Baumwollstoffe, durften nicht mehr importiert oder produziert, ja sie durften nicht einmal mehr getragen werden. Wer weiter Vorhange tn den Stuben oder Kleider aus Baumwolle nutzte, wurde betraft. So heißt es im Protokollbuch des Berliner Magistrats unter dem 28. 11. 1722: »Haben drei Frauensleute am Hals-Eisen gestanden wegen verbotenen Cattun.« Um den Absatz wollener Zeuge zu forcieren, schlug man ein Gesetz vor, die Leichen mit wollenen Strümpfen, Kleidern und Mützen zu beerdigen. Bei durchschnittJich 60 000 preußischen Toten im Jahr errechnete man sich eine erhebliche Nachfragcsteigerung. freilich war die übergroße Masse der Bauern und Handwerker viel zu arm, um ihre Toten teuer zu begraben. Das wirkliche Antriebsrad der preußischen Industrie blieb die Armee. Wer Mann war und nicht invalid oder unabkömmlich, wurde Soldat. Und die enorm vergrößerte Armee verlangte Unterordnung der ganzen Wirtschaft. Stärker als in anderen Territorialstaaten wuchs in Preußen ein unheilvoller Militarismus heran. Berlin wurde Vorratshaus des Kriegsgottes Mars. Dem Soldatenkönig folgte mit Friedrich II. ein Monarch, der sich selbst gern als Philosoph sah und einen »aufgeklärten Absolutismus« praktizierte. Wer wollte, sollte sich auch mit Kattun kleiden dürfen. Und wer es sich leisten konnte, mit Seide. So

beschloß Friedrich II., eine Seidenproduktion aufzubauen. Maulbeersetzlinge wurden importiert und Alleen, Wälle, selbst Friedhöfe mit der Lebensgrundlage der Seidenraupe bepnanzt. Küster und Schulmeister hatten die Raupcnzucht zu propagieren. Französische Seidenhersteller wurden eingeladen, sich in Preußen niederzulassen. Reisegelder und Startprämien sollten den fremden den Import ihrer Kunstfertigkeit lukrativ machen. Den bedeutenden Seidenfabrikanten Girard und Micbelet wurde am Spittelmarkt ein großes Gebäude kostenlos überlassen, eine Privilegierung, die in der hohenzollern chen Kolonisationspolitik gang und gäbe war, jetzt aber nur noch ausgesuchten Gewerben und Männern zukam. Dabei sollte nur Leistung zählen; Glaube, Nationalität seien gleichgültig. »Alle Religionen seindt gleich guth«, schrieb Friedrich II. in schlechtem Deutsch, »wan nuhr die Leute, so sie profcsiren, Erlige leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wollten das Land pöpliercn, so wollen wir sie Mosqueen und Kirchen bauen.<< Doch die Einwanderung reichte nicht, und da Friedrich mit seiner Konservierungspolitik gegenüber dem Feudaladel eine Freisetzung ländlicher Produzenten selbst unterbunden hatte, mußten Kinder und Frauen in die Manufakturen. Waisen wurden an Unternehmer verliehen, Bettler und Vagabunden in Zuchtund Spinnhäuser gesteckt. War am Anfang des 18. Jahrhunderts jeder IOO. Berliner im Textilgewerbe tätig gewesen, so am Ende desselben jeder zehnte. Berlin war zur bedeutendsten deutschen Textilstadt geworden und eine der größten europäischen dazu. Die Bedürfnisse jener Armee, die Friedrich II. zur Verfolgung politischer Großmachtziele einsetzte, hatten einerseits der ökonomischen Entwicklung Preußens starke Impulse gegeben. Andererseits brachte die kriegerische Außenpolitik der Hohenzollern der Bevölkerung immer wieder Entbehrungen und schweres Leid, fügte der Wirtschaft großen Schaden zu. So vertief die Entwicklung Berlins zu dieser Zeit sehr widersprüchlich im Spannungsfeld zwischen aufblühendem Manufakturwcsen und janusköpfiger Machtpolitik. Dr. Klaus Brandenburg Reproduktionen:

A.rchi„ Dr. Brandntburg, BV-Archiv

DES KÖNIGS Manufakturen und Machtpolitik Berlins ökonomische Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert

Des Königs Soldattn sollten IUCh des Königs Rock tragen: einheitlich preußisch Tuch in dem betühmten Berliner Blau

-

-



Hohe Schule der Medizin Die Charite wie sie noch keiner sah

i /

- - - __. „

1

.1 .•

A Rudolf Vin:how p 8 Johannes Müller \

..... \

I

I



SEITE 108





-

23

LAGE DER KLINIKEN UND INSTITUTE

---- . .

1bis16: Augenklinik · Chirurgische KJinik · Frauenklinik · HNO-K.linik · Orthopldische Klinik · Urologische Klinik · Nukleannedizinische Klinik · Institut rar Röntgendiagnostik · Institut rar K.ardiovaskullre Diagnostik . Institut rar Transfusiologie und Transplantologie · Institut rar Pathologische- u. Klinische Biochemie · Institut rar Medizinische Immunologie · Institut rar Klinische

Pharmakologie · Institut rar Physiotherapie . Klinik rar Anlsthesiologie u. lntensivtherapie · Institut rar Experimentelle Endokrinologie · 17 Zentrale Poliklinik · 18 Verwaltungs&eblude · 19 Kinderklinik · 20 Pathologisches Institut · 21 Klinik rar Innere Medizin · 22 Nervenklinik · 23 Geschwulstklinik · 24 Sektion Stom.atologie ·• 25 Versorgunpzentrum · 26 Hautklinik . 27 Anatomisches Institut · 2& Apotheke ·

H Adolf Bardeleben 1 Friedrich Kraus J Otto Heubner K Friedrich Althoff L Ernst v. Leyden M Albrecht v. Graeve DENKMÄLER BERÜHMTER MEDIZINER AUF DEM GELANDE DER CHARltt

SEITE 109

E

rst knapp zwei Jahre sind ergangen, seit die Berliner Charitc ihr 250jähriges Jubiäum feiern konnte. Entstanden aus einem ehemaligen Pcsthaus, hat sich die ehrwürdige Stätte medizinischer Betreuung, Forschung und Ausbildung heute zu einem Klinikum entwickelt, in dem etwa 20 Prozent des Forschungspotentials der medizinischen Hochschuleinrichtungen der DDR konzentriert sind. Unsere Bilder und Grafiken auf diesen Seiten verdeutJichen, wie die Charitc nach dem endgültigen Abschluß der Bauarbeiten in wenigen Jahren aussehen wird. Seit der Einweihung des Hochhauses mit seinen 23 Etagen im Jahre 1982 hat sich die Zahl der medizinischen Leistungen ständig vergrößert. Jährlich werden von den etwa 5500 Mitarbeitern der Charitc über 40 000 Patienten stationär und etwa 800 000 Patienten ambulant behandelt Allein das Hochhaus beherbergt 1200 Krankenhausbetten, die sich auf 30 Stationen und fünf Intensivstationen verteilen. Hinzu kommen 26 Operationssäle mit modernster Medizintechnik. Der Name der Charitc ist mit dem Wirken so hervorragender Gelehrter verbunden wie Rudolf Virchow, Emil Oubois-Reymond, Hermann von Helmholtz, Robert Koch, Paul Ehrlich und Ferdinand Sauerbruch. Nach dem zweiten Weltkrieg waren nur etwa neun Prozent der alten Charitc-Gebäude unbeschädigt. Daß die neue Cbarite in der Qualität der medizinischen Betreuung wieder Weltgeltung erlangt hat, ist Ärzten wie Professor Moritz Mebel zu verdanken. der sich bereits frühzeitig mit experimentellen Arbeiten auf dem Gebiet der Nierentransplanta-

tion beschäftigte. Zu nennen wären auch Maxim Zetkin, der verdiente Volksarzt und Pionier unseres Gesundheitswesens, oder Professor Helmut WolfT, der in der Nachfolge Professor Sauerbruchs mit erfolgreichen Transplantationen der Leber und des Herzens chirurgische Meisterschaft bewies. Noch immer ist die Charite Baustelle. Oie zweite Phase der inneren Rekonstruktion der von wildem Wein umrankten Klinkerbauten geht gegenwärtig nahtlos in die letzte Phase über, bei der unter anderem über einen unterirdischen Tunnel der Komplex medizinischer Einrichtungen auch organisatorisch und technologisch noch besser verbunden wird. Oie Charite ist ein Wahrzeichen für die umfassende gesundheitliche und soziale Fürsorge, die in unserem lande jedem Bürger zuteil wird.

Redaktion: Helmut Lienemann Fotos: Gerhard Kiesling Grafik: Lutz Liiden SEITE 110

/

NBI 1987



Fort ~rt1un1t

von Seile 1OQ

Hohe Schule der Medizin - Die Charite im Überblick

der AloM!mllg .an Monitorbildern IUS dem Colrfluter-Tomo,,,,,.. lM#S Gedt rtitd luupalcNich fii

'0Mp/izill1e Quer~

,.,, bMutzt. VII. Im lnltitut fiJr Plthologildtl wtd Kfllli-

/ ;I/ /

'

Mitdftr Bildnllll„ Seile,,,,., ... dit w;. klMfjSStMlen,,..,,. ,._ dizinft der Ovritl • . Oit

1. ,,, •

Orthoplllil: MR Pro-

lmor Dr. Je. Hlttmot lippll bti,;,,,, ,.,_ r6mi1dtetl Ziflrm entJptt- ,,.,, "*"".an 116ntdtett dem A/68tJ/Jeeidi, in genbiJdtJm der Witbfl.,, dit . . .. ,,..,, lippll ,.,, des ist_._.. $pBillrztlidw KJlllSt . . . .. /ist fii dit ~ tioo kiitrstlit:Jllr Gf-

„HocM_, .....;, „, .,.

Wt.

11.·.,,,... Klina fii Urolog#: OMR Prolls- Dr. Je. Moritz Mlbtl b#pridlt mit #inlm ~die Trwp/Mrt.IWn,;,,,, III. Im Institut fii IMNifn. O. ll'l!tdimte tfzinildte ltnttuJoJo..

AnJ ist Vorsitzendel des KOtnitles Ärrte der DDR 111 Verflci-

,,.,, ,., ,...._

krieges. NBI 1987



"

. ..... . ·./'-......'• „

KW'ir

ldw lliodaW: Prodeutendln Zltltrum lmor Dr. tc. Hans der T~- Grosr bti,;,,,, i/ichinqie der DDR. nildl-biodtaMdwn V. In der Ab«iMrg fiJr ~· Auch ~: ProUnffnUl:lurg lmor Dr. tc. K1M rtitd MolMtist:h liitplTiln ~- ~ wtdum. o;e~ ,,,,,,,.,. .an l.Mtlstlihl«t wtd VIII. In der /ltJlikJinik ~uhodrwer- fii~: MR Ptolmor Dr. tc. 1#1- tigen ,,,._ ~ Ptolmor Dr. IC. S.tnit bereit1 zwn All- Mttl Contadi beobdC.,,,., fiJr ~ • ~. tag. tet Ob.tgttt iln llwwtd AM/yJe ,,._ 0. W..... Otinq VI. 1111 Institut fii fllllfllbltbn. Sie tWmttet. lt6t .~Alt- R6ntgmt/illgnod: - • ,,,.,,,. fii IV. In der Otinqileil.,, AltlbaJ der MR Ptolmor Dr. tc. tle schttl KW: OMR Ovritl be- Mtinhltd Lüning bti Ettrdungtn.

gie: MR Ptolmor Dr• .c. Riidil/fl .an latht bei der~ dtung .an Zellpopu/ationfn. O.S Institut ist

„ ,,..,..,

"""Wo/ff"""""'·-

zu._,

w

„..._,.,

-SEITE III



Die älteste erhaltene Zugbrücke heißt »Jungfernbrücke«, die Fricdrichsgracht und Unterwasserstraße miteinander verbindet. Der Name kommt von den neun Töchtern der Hugenotten-Familie Blanchct, die an ihrem Stand neben der Brücke Wäsche nähten, ausbesserten und wuschen - und nebenher den neuesten Stadtklatsch verbreiteten. Heute zählt Berlin rund 640 Brücken: ältester Spreeübcrgang ist die

Bunkerberg - künstlich angefüllt mit über einer Million Kubikmeter Trümmerschutt. Die ausgefallensten Wohnungen befinden sich in einem dcnkmalgcschütztcn, 110 Jahre alten runden Wasscrtunn auf dem einstigen Windmühlcnbcrg von Prcnzlaucr Berg, in dem seit 1914 nicht mehr gcfreiem Himmel ist der Innenhof des ehemaligen Zeughauses und heutigen Museums für Deutsche Geschichte - mit Andreas Schlütcrs »Masken sterbender Krieger«.

liegt j. w. d. (»janz weit draußen«) im Grünen und mißt 115 Meter: der Große Müggclberg. 92 Meter hoch erhebt sich die spazicrgängcrf reundlich begrünte Odcrbruchkippe. Mühlcndammbrückc, die einst zwischen Molkcnmarkt und Nikolaivicrtcl die Schwesterstädte Berlin und COlln verband. Das hOchstc Bauwerk

Die älteste Apotheke

pumpt wird, aber bis 1952 noch Wasser gespeichert wurde. Danach baute die KWV in die dicke » Litfaßsäule mit Fenstern« zentralbeheizte Wohnungen für 25 Mieter: die in vier- und sechseckigen Räumen wohnen.

Das gewaltigste Rad

der Hauptstadt liegt rund um den sechs Hektar großen morastigen »Faulen Sec« und ist ein Dorado Hunderter Pflanzen- und 90 Vogelarten, zu denen Nachtigall, Pirol, Wendehals und Waldkauz gchOrcn. Ein Naturlehrpfad durch die urwaldähnlichc Wildnis im Stadtbezirk Ho-

an der Ecke Roscnthalcr/ Ncuc SchOnhauscr Straße besteht 255 Jahre, sie wurde anno 1732 vom Hofrat und Leibmcdicus Buddacus gegründet. Dutzende von Kästen und Fächern. kunstvolle

Die glänzendsten Damen

Holzschnitzereien und anmutiges Deckengemälde verbreiten das Fluidum Alt-Berliner Handelshäuser - das heutige Interieur ist genau 100 Jahre alt. Das modernste Fahrgastschiff

Die grOßtc Parkanlage der Innenstadt

der »Weißen Flotte<
ist der Volkspark Fricdrichshain mit 52 Hektar: zu ihm gchOrcn der Märchenbrunnen und der 78 Meter hohe hcnschOnhauscn gibt Auskunft über die seltene Flora und Fauna dieses reizvollen Gebietes. Der beliebte tc Treffpunkt

Die ungcwOhntichstc Kulisse für Sommerkonzerte unter

blüht im Haupt-Foyer vom »Palast der Republik« : Sie wiegt zehn Tonnen, ist über vier Meter breit, 5,20 Meter hoch und besteht aus Glas und Chromstahl. Oie Fläche der zehn Blütenblätter ist aus geschliffenem und behauenem Kristallglas; Sehopfer der gläsernen Blume sind Richard Wilhelm und Rcginald Richter vom Kollektiv Bildender Künstler »Glasgestaltung« Magdeburg.

Das weitläufigste Naturschutzgebiet

behängt mit 36 Gondeln ist das Riesenrad im Pläntcrwald. 216 Vergnügungssüchtige passen bei jeder Fuhre rein. Mit 43 Meter Hohe überragt es seine Umgebung, den Kulturpark Pläntcrwald, und bietet einen windigen Weitblick über Spree und Trcptowcr Park bis zum alten Ortsteil Stralau.

schwebt das hOchstc Cafe Berlins, dessen Scheiben von den schwindclfreicstcn Fensterputzern saubcrgchaltcn werden. Vier Meter tiefer, an der Aussichtsplattform, endet der längste Lift, den es je in Berlin gab.

schiffe gehen mit fast 8000 Passagieren an Bord auf Kurs über 160 Kilometer Wasserstraße einschließlich 32 Seen in und um Berlin. Oie flotten Weißen der Weißen Flotte verkehren im Takt froher Weisen auf 36 Routen - und sind damit die Größten im lande. Die grOßtc Blume

zeit zu lange dauert, der setzt sich gleich nebenan auf die längste Bank der Hauptstadt: 125 Meter.

Der hOchstc Berg

ist, unübersehbar von allen Seiten, der Fcrnschtunn. Seine Antenne kitzelt in 365 Meter HOhc die Wolken : 207 Meter über der Stadt, in der Tclcturm-Silberkugcl,

gcscllschaftcn ist die zehn Meter hohe Weltzeituhr auf dem Alex. Wem die Warte-

blinken gülden im Sonnenlicht auf den Kuppeln der beiden Dome am Platz der Akademie - 60 Meter über Berlin. Vom Schauspielhaus rechts, auf dem FranzOsischcn Dom, steht die » Religion« mit einem Palmcnzwcig in der Hand; links, auf dem Deutschen Dom, triumphiert die »Tugend« über die Schlange der Versuchung zu Füßen der mit 100 Gramm Doppel-Dukatengold überzogenen Dame. Im August 1986 wurde die nach Fotos wicdcrcrstandcnc Kuppclfigur nach einem HOhcnflug mit einem Hubschrauber auf die Dom-Spitze gesetzt neuer Glanzpunkt für die Hauptstadt-Silhouette. Illustrationen : Thomas Schleusing

für Liebespaare, Familien, Schulklassen und Au flugsNBI 1987

SEITE 114





Küche Wenn es um ihr leibliches Wohl ging, haben schon Berlins Altvordern, sofern sie es sich leisten konnten, der Maxime gehuldigt : »Lieber 'n bißken mehr, aber dafür wat Jutes!« Unter Gutem verstanden sie dabei Deftiges. Fisch und Fleisch wurden in ungeheuren Mengen verspeist. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts - Berlin zählte kaum sechstausend Seelen - waren in der Stadt bereits vierundfünfzig Fleischer und vier Wurstmacher ansässig, die alle Hände voll zu tun hatten. 1565 bestimmte der Rat, daß bei Gewerksversammlungen einem jeden Meister nicht mehr als vier Pfund Fleisch, ein Huhn und eine Schüssel gekochten Essens vorzusetzen sei, und bei einer Hochzeit dürfe nicht mehr verzehrt werden, »denn davon man möchte ein Jahr haushalten«. Stets gehörten Beilagen zum Fleisch : Grütze oder Hirse, Bohnen, Linsen und Reis. Von Kartoffeln war noch nicht die Rede. Die wurden erst 1649 erstmaJig im Lustgarten angebaut und von den Bürgern mit Mißtrauen betrachtet. Doch schon wenig später schrieb der kurfürstliche Leibarzt und Gartenmeister Johann Sig.ismund Elsholtz über die Knollen: »In den Küchen werden sie fürnemlich auf vielerlei Art zubereitet. Erstlich siedet man sie in Wasser mürbe, und wenn sie erkaltet, so ziehet man ihnen die außcnwendige Haut ab ; alsdann g.ießet man Wein darüber und lasset sie mit Butter, Salz, Muskatenblumen und dergleichen Gewürz von neuem kochen : so sind sie bereit. Darnach kann man sie mit Hühner-, Rindoder Kalbfleischbrühe kochen und abwürzen oder sie auch an Rind- und Hammelfleisch tun. Oder man schneidet die abgekochten Tartuffeln in runde Scheiben und bratet sie in der Pfanne. Oder viertens man schneidet Zwiebeln und Essig daran und lasset es also durchbraten.« Hundert Jahre später machte Friedrich II. diese »Küchenwurzel« per Dekret zum Hauptnahrungsmittel. Immerhin gelang es ihm damit, der Hungersnöte Herr zu werden, die unterdes nach zehn Mißernten in Preußen grassierten. Und in Berlins Küchen wurden die Erdäpfel NBI 1987

zu. Denn es ist nachzuweisen, daß diese gepökelte Schweinshaxe zuerst in einer Berliner Kneipe in der Gegend um den GOrlitzer Bahnhof angeboten wurde. Das gegen 1900 in der FranzösiPOkeleisbein wurde weltberühmt. Viele Prominente lobschen Straße nahe dem Gendarrnenmarkt, dem heutigen ten es - gekocht, gebraten oder gebacken, mit ErbspüPlatz der Akademie, kreiert wurde. Dort, im Luxusrestau- ree und Sauerkraut serviert in höchsten Tonen. Schon rant Borchardt, pflegte der Friedrich Gottlieb KJopstock Vortragende Rat in Bisund Immanuel Kant fanden marcks Auswärtigem Amt, dafür anerkennende Worte, Friedrich von Holstein, zu speisen. Einmal - es presMarlene Dietrich - die allerdings auch Berlinerin war sierte im Regierungsgeschäft nannte es ihr Leibgericht, - ließ er sich Vorspeise und und Louis Armstrong ließ Hauptgericht auf einer Platte sich während seines Berliner servieren: Das Holsteiner Schnitzel war geboren. Sicher- Gastspiels das herzhafte Gelich tut man ihm zuviel Ehre richt gleich mehrmals täglich und auch noch in der Nacht an, es als berlinische Speise auf sein Zimmer im Berolinazu preisen. Solch ein Prädikat kommt wohl eher dem Hotel kommen. weithin gerühmten Eisbein Nicht minder populär ist Kassler, das leicht geräucherte, in Salzlake gepökelte Schweinefleisch, dessen Erfindung dem Berliner Aeischenneister Cassel aus der Potsdamer Straße 15 zugeschrieben werden kann. E ist noch heute so beliebt wie die Bockwurst, die als erster Metzgermeister LOwenthal vor hundert Jahren im Eckhaus Friedrichstraße/ Krausenstraßc produziert hat. In einer nahegelegenen Kneipe verzehrten sie die Gä te zum Bockbier und gaben ihr deshalb ihren Namen. Eine Bcr liner Gaststätte war ei. auch, in der erstmals Hackepeter angeboten wurde. Das war 1903 in der Landsberger Straße (die vom Alexanderplatz zum heutigen Leninplatz führte). Das durch den Wolf gedrehte frische Schweinefleisch, gewürzt mit Zwiebeln, Salz und Pfeffer, bildete - mit Zusatz von Rindfleisch und eingeweichten Schrippen - die Grundlage für die in Fett gebratene Berliner Bulette. Unvollständig wäre eine Berliner Speisekarte ohne frische Rinderbrust mit Brühkartoffeln und Meerrettichsoßc, ohne LOffelerbsen mit Speck oder Schweineschnauze, ohne Hammelfleisch mit grünen Bohnen und ohne gebratene Leber mit Zwiebel- und Apfelringen. Ob aber auch diese Speisen wirklich »echte Bertinen< sind, läßt sich kaum noch nachprüfen. • ~ 1 •• \

Eisbein, Bockwurst und Buletten heimisch und nicht mehr wegzudenken. Sie hannonisierten schließlich auch mit den vielen neuen Speisen, die Zuwanderer aus allen Himmelsrichtungen mitbrachten : man aß sie zu den feinen Gemüsen - Blumenkohl, Spargel und Salat -, die man den Hugenotten verdankte, zu Aal grün mit Gurkensalat aus dem Spreewald oder zu den unübertrefflich zarten Teltower Rübchen, die heute so

selten geworden sind, weil ihr Anbau im märkischen Sand so arg beschwerlich ist. Solide Hausmannskost blieb dennoch Charakteristikum der hauptstädtischen Kochlcunst, die damit wenig Chancen hatte, Plätze auf den Speisekarten der intemationalen Gastronomie zu erringen. Und doch hat sie es geschaffi. Nicht nur mit dem Holsteiner Schnitzel, dem durchaus noblen Gericht, das



1-::J~-'1

.l

" 't. ~

V·„ ·

\

, ....: .

1

·,qt' l

Hans Prang

SEITE 11 5



Sta1010tisch Ob es nun am sprichwörtlichen Berliner Tempo oder an der oft behaupteten wißbegierigen Besserwisserei lag, war zunächst nicht auszumachen. Aber ohne lange zu fakkcln wurde erst mal gleich die Grundfrage gestellt, nämlich wer ein richtiger Berliner sei. »Also, wer ein Berliner ist, der sagt nicht berlinerisch, sondern berlinisch.« Eine derartige Eröffnung verriet schon einiges von dem »verwegenen Menschenschlag«, wie ihn einst der Wahlthüringer Goethe beschrieben hatte. So sei er nicht aufs Maul gefallen und frech wie Spucke, verfüge über eine schnelle Schaltung und ein schnoddrig-schlagfertiges Mundwerk. Auch würde er nicht selten widersprechen, gäbe seinen Senf dazu, so wie wir es gleich von Berta Watcrstradt vernahmen : » Was' n echter Berliner ist, der kommt aus Schlesien.« De facto sei sie zwar nur eine »halbe<< Berlinerin, da ihre Mutter nach Kattowitz geheiratet hatte, aber schon 1923 ist sie hierher gekommen. Somit also - und das sei doch klar wie Kloßbrühe - sei sie eine echte Berlinerin. »Aber keine waschechte«, wie der »Jraukopp mit de dicke Nccsc« namens Ernst Kahler prompt reagierte : »Da war ich nämlich schon lange da.« Und mit Genugtuung setzte er noch hinzu : »Dicht daneben ist doch vorbei.« Ermuntert durch die richtungweisenden Ausführungen seiner Vorrednerin erklang der Baßbariton Rudolf Asmus : »Und ich bin Mähre, stamme aus Gottwaldov und lebe seit dreißig Jahren in Berlin.« »Also<<, dabei setzte Heinz Oehling seinen halben Liter Bier hörbar ab, »also sind Sie mähr oder weniger Berliner.« Und einmal am Zuge, fuhr er selbstbewußt fort : »Ich war mal fünfzehn Jahre auf dem Lande, aber ich finde, wo ich war, da war Berlin.« >>Ich bin mit vier oder fünf Jahren mit meinen Eltern nach Berlin gezogen«, sagte Barbara Thalheim. »Und obwohl wir in Karlshorst eine schöne Wohnung mit Wald vor der Nase hatten, zog's mich nach'm Prenzlauer Berg. Dort in den Hinterhöfen wohnten eben die ganzen

Dispute überBerliner und Berlinisches

Lokal-Termin

Kumpel und Studenten, da war mein Berlin.<< » Na bitte«, prustete sogleich Renate Holland-Moritz los : »Das Berlinische ist nicht nur eine Frage, ob man hier geboren ist und so spricht, sondern eine Frage der Denk- und Lebensweise. Man muß berlinisch denken und empfinden können. Das stammt von Werner Klcmkc, ist aber auch nicht schlecht.« »Die Stadt und ihre Bevölkerung«, womit sich Dr. Laurenz Dcmps erstmals crbcbewußt zu Worte meldete, »so wie wir sie kennen. ist in ihrer Zusammensetzung Ende des 17. Jahrhunderts entstanden. Als ein nationaler Schmelztiegel, mit der Einwanderung der Hugenotten, Juden, Holländer, Böhmen und Polen.« »Und de Sachsen«, die Heinz Oehling nicht in Vergessenheit geraten lassen wollte. »früher gab's in Berlin nämlich einen Beruf, der nannte sieb ,Sächsischer Komiker'. Und diese Leute haben damit einen Klotzen Geld verdient.« Damit war das Stichwort gefallen, worauf sich Ernst Kahler spontan zu Wort meldete.

Kem•ta dn?

Stammtische gehören zur Berliner Geschichte. Erinnert sei nur an jene legendäre Runde um E. T. A. Hoffmann und Ludwig Devrient imWeinkeller •Lutter und Wegenerc. Dort trafen sich einst Schauspieler, Literaten, Gelehrte. Dort wurde getafeh und diskutiert und der Mit- und Nachwelt so allerhand an Geschichten überliefert. Angeregt durch diese feucht-fröhlichen und geistvollen Vorväter lud NBI einige prominente Zeitgenossen ein: Mit dem Schauspieler Ernst Kahler (2. v. r.), der Satirikerin Renate HollandMoritz (3. v. r.), dem K•ikaturisten Heinz Behling (3. v. 1.) und dem Historiker Dr. Laurenz Demps (Mitte) vier waschechte, dazu mit der Schriftstellerin Berta Waterstradt (2. v. I.) einen ....... und der lildennll:heAn 8a'bara lhalheim (1.) sowie dem Opemsir.ger Baidolf Asm11s (r.) zwei leidenschaftliche Wahl-Berliner. In der Destille •Zur letzten Instanz« belauschten wir ihren •Lokal-Termine.

»Ein echter Witz, den ich in unsa Kneipe erlebt hab'. Als da nämlich ein angefeuchteter Typ pausenlos zu mir sagte: >Lern nie schwimmen !< Und ich imma: >Ja, doch, iss ja jut.c Aber der quatschte imma weiter uff mich ein. bis ich zu ibm sagte: >Mann, dujcbst mir ufrn Keks. Warum soll ich nich schwimmen lernen? Außerdem kann ich schwimmen.< Darauf er: >Eines Tages springt 'ne Frau vonne Brücke ins Wasser, ich hinterher und kriegsc zu fassen. Heute isset meine Frau lerne nie schwimmen!< « Die Holland-Moritz: »Wir hatten mal im Winter vergessen, vor unserem Haus zu streuen. Ich gucke so aus dem Fenster und sehe, wie ein altes Mütterchen ausrutscht. Als sie mein erschrockenes Gesicht sieht, sagt sie mit ruhiger Stimme : >Mach dir nichts draus, dct iss imma noch besser als keen Kaffee.<« »Mein typischster Berliner Witz geht so«, läßt sieb Berta

NBI 1987

SEITE 116





Stammtisch Waterstradt vernehmen: »Wie einer fragt, wo die Komische Oper sei. Und der andere sagt : >Könnse dit nich freundlicher fragen?< Worauf dieser kontert: >Nee, lieba verloof ick mir.<« Was also ist der Berliner Humor oder Witz? Ober die Herkunft war man unterschiedlicher Auffassung. Einig aber darin, daß der Witz trocken, rauh, gelegentAus Adolf G'4jlbrmnen • lhrlinisdle Blumensprache•. illustriert wm Cleo Kurze:

wie sie in der Runde hin und wieder fielen.) »Nach meinen Erfahrungen«, meinte Renate Holland-Moritz, »gibt's gar keinen Berliner Humor, sondern nur den ganz spezifischen Berliner Witz. Nicht zu vergleichen mit dem sehr freundlichen Sächsischen Humor. Der Berliner hat's nämlich gerne, wenn er ein bißchen hämisch lachen kann. Er nimmt's aber auch nicht übel, wenn man über ihn lacht. Darauf Rudolf Asmus : »Ich habe einen Berliner in der Familie, meine Tochter Barbara. Sie ist 20 Jahre alt und in Berlin geboren. Die Berliner Schnauze hat sie, auf den Witz warte ich noch.«

ßerst geehrt und sagte: >Wissen Sie, Herr Intendant, ich weiß gar nicht, was Sie von mir erwarten 7< Darauf antwortete er lächelnd: >Mir reicht, wenn Sie kein Theater spielen.<« »Und bei mir«, wie Ernst Kahler anhob, »begann das Theater auch mit einem Miß-

Berliaer MißyerstilNl•isse

Joll, wat bist Du niedlich Un so appaitlidt! An Deine Bnut Ist Jlittnlust!

lieh übertrieben ist und manchmal auch »unter de Jürtellinie« geht. Vermuteten einige, daß er zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges oder während der Pest von 1637- 39 seinen Ursprung hatte, bringen andere ihn ·wiederum mit dem Zuzug der Hugenotten in Verbindung. Behauptete Adolf Glaßbrenner: » Der Witz und Sarkasmus entspringt aus einer großen Quelle preußischen Ruhmes ; aus dem Kopfe Friedrich des Großen«, o lSt von Otto Julius Bierbaum überliefert : »Humor ist, wenn man trotzdem lacht.« Und in einer Berliner Gazette von 17 3 hieß es : »Wahren Witz habe ich hier oft im Ausdruck des gemeinen Pöbels bei heftiger Leidenschaft gehört: lang ausgesponnene Flüche, Dialoge von Schimpfwörtern und Ergüsse von bitterer Galle, die wert wären, im Shakespeare zu stehen.« (Verständlicherweise verzichten wir hier auf einige Kostproben verbaler Kunststücke,

NBI 1987

»Daß ich mal nach Berlin ziehen würde, daran hatte ich vor nun dreißig Jahren nie geglaubt. Es war ein Zufall. Walter Felsenstein von der Komischen Oper bereitete Lco Janä~ks Oper >Das schlaue Füchslein< vor. Und dies tat er sehr gründlich, entdeckte dabei eine komplette >Füchslein<-Aufnahme aus der CSSR. Die Partie des Försters hatte ich gesungen, da aber bei der Aufnahme keine Personen angegeben waren, reiste er selber nach Prag. Als wir uns das erste Mal trafen, kam er auf

Nadt du üdle Schleife Wint umson.rt Du nuat! Maclt mir m.e Pfeife, Denn wud' idc Dir wat blasm.

mich zu, legte seine Hand auf meine Schulter und sagte : •D i er · Seit der Zeit waren •ir ein Herz und eine Sttle. ich dann am 30 M n 1956 mit dem ~hnellzug pu ruich nach zwe1stundiger Versp tung eintraf - er stand da wohl auf d em Bahnst ? Der Felsenstein. leb fühhc mich äu-

Schlagersingen, wurde von Professor Wolfram Heiking an die Musikhochschule »geschleppt«. »Dann kam der Punkt, wo ich begriff, daß man nicht das Recht hat, den Leuten von der Bühne runter eine Welt vorzugaukeln, die so nicht existiert.« Ihren Urwunsch, nämlich lnspizientin zu werden, hat sie noch immer, und sie findet es komisch, Lieder darüber zu machen, daß man sie nicht lnspizientin werden läßt. » Wat nich iss, kann ja noch werden«, kommentierte dies der Behling. Er selbst habe als Kinoreklamemaler fürs Babylon begonnen, später im Stahlwerk gearbeitet, dann die Kunsthochschule absolviert und sei dann erst zum »Eulenspiegel« gekommen. Sein Vorbild - und dies sagt er in typischer Berliner Bescheidenheit - ist er selbst. »Allerdings ein besserer Behling. Einer, der mit den Unzulänglichkeiten des jetzigen fertig wird.«

den Strapazen der Oberschule nicht mehr gewachsen sei. Damit ging ich mich bewerben. Erst zur Schauspielschule, wo sie mich aber nicht nahmen, da ich henkrank war. Das hat mich nicht tief erschüttert, da ja noch das mit der Presse war. Bei der >Deutschen Woche<, so einem richtigen Boulevardblättchen, fragte mich dann einer, wann denn nun meine Mutter käme. Als ich ihn auflcJärte, riet er mir, noch'n bißchen zur Schule zu gehen. Also ich zur Handelsschule, denn Tippen und Steno wollte ich gerne lernen.

Ullmann! Sm. Sie nidt so nulrin1lidt'

verständnis.,Als ich nämlich aus der Kriegsgefangenschaft kam, dachte ich : Mensch, jetzt noch mal uff de Schule, wo du doch allet verjessen hast. Wat machste nur? Und da zu der Zeit allet ufrm Kopp stand, dachte ich mir: Da müßte doch wat mit' m Theater zu machen sein. Einer Pianistin, die ich kennenlernte, erzählte ich dann von meinen Plänen. Die wiederum kannte den Fritz Wisten vom SchifTbauerdammTheater. Ich also eenes Tages dahin, und da lag er so in einem weißen Mantel ufrm Sofa und sagte : >Ja, bitte!< Und da hab ich dann drei Nummern abgezogen, worauf er sagte: >Also gut, ist gemacht, steigen Sie ein für 450 Mark Anfangsgage.< Und dann sagte er noch ~ >Eines sage ich Ihnen, Sie sind ein ganz ausgekochter Provinzjockei. So spielen Sie bei mir nicht.< Erst nach eineinhalb Jahren hat er mitbekommen, daß ich nie eine Schauspielschule besucht hatte.« Von ähnlichen Umwegen berichtete auch Barbara Thalheim. Als gelernte Stenotypistin ging sie zunächst als Botin ans DT, stapelte dann irgendwann Tomatenkisten, lernte an der Fachschule das

Wonadt idt la111e muJndutt Und still IMin Au1e llat 1nWAI Das llab' ich Jetzt i1I Dir 1efruuln. Urtd aß Mii XIUflllln ut

-a......_

Ach, mein Herz bmint lidttnlolt. Wie ftlljroßes Bündel Stroh! Nimtals tttrd' idt Rultefuulai, Kann u Dir nidtt auch mtziindm.

»Bei mir dagegen is allet glatt jeloofen«, bekannte darauf die Holland-Moritz. »Damals, so in den 50er Jahren, bin ich auf die Oberschule gegangen, aurn sprachlichen Zweig. weil ich in Naturwissenschaften absolut dämlich· war. Aber auch von Sprachen wußte ich zu wenig. Wir hatten da so 'n netten Studienrat, der mir gewogen war, und immer sagte: >Wie kann ein so intelligentes Mädel bloß so blöde sein?< Und weiter: >Aus Ihnen wird überhaupt nichts, es sei denn, Sie gehen zum Film oder zur Presse.< Ich hielt diesen Tip für so eine Art Berufsberatung. Also schrieb ich mir im Namen meiner Mutter einen Zettel, daß Tochter Renate

Danach habe ich bet der 1onatszeitschrift >Neue Gesellschaft<, die damals Harald Hauser leitete, eine Volon rstelle bekommen. Anschließend zur >Friedenspo t,, ter war ich Gerichtsreponer. Und da hatteo wir hier in der >Letzten Instanz< einen Stammtisch. Irgendwann hat Rudi Hirsch zu mir gesagt. ob ich nicht mal aufschreiben wolle, was ich hier so beim Bier alles erzähle. Und so habe ich eine Geschichte aus der S-Bahn aufgeschrieben, wozu der Rudi sagte: >Oh, du hast aber ein hübsches Feuilleton geschrieben.< Zu Hause habe ich erst mal nachgeschlagen, was ein Feuilleton ist. Ich hab's dann dem >Eulenspiegel< geschickt und bekam einen Antwortbrief von Hans-Georg Stengel, der darin schrieb: >Falls Sie in angemessenen Grenzen hübsch sind, nehmen wir Sie.< Da bin ich im neuen Kleid, das Geld dafür hatte mir Berta gepumpt, hinmarschiert. Und da fiel dem Stengel noch 'ne Frage ein: >Sagen

SEITE 117

"

Stammtisch Sie, können Sie eigentlich dichten?< Als ich verneinte, sagte er den in mittlerweile dreißig Jahren schönsten Satz zu mir: >Dann können Sie bleiben. Dichten kann hier jeder Idiot.<« Noch 'ae Rultde

Ziemlich lange hatten wir auf diesen Kraftausdruck gewartet, der zu den verschiedensten AnJässen benutzt wird. Daß sein Ursprung nicht Berliner, sondern lateinisch/ griechischer Art ist, ist dem Berliner schnurz und piepe. Hauptsache, er sitzt, und je nach Anlaß gibt's dafür diverse sprachliche Entsprechungen. Ob nun bekloppt, dämlich, plemplem, dußlig, behämmert, beknackt, bescheuert oder meschugge, mohndoof oder hirnrissig, blöd oder falsch gelötet - das

oder ufrn Schwof (obcrsächsiscb) inne Destille, Stampc oder Budike (alle aus dem Französischen) - der Berliner macht's möglich. Nimmt sprachlich alles, was nicht niet- und nagelfest ist und gibt gelegentlich seinen Senf dazu. Ein Beispiel lieferte Heinz Bchling, der die Runde aufforderte, einen Satz mit den Worten » Nonne, Mama und Feuerwehr« zu bilden. Also: »Haste nonnc Zijarcttc da, jib ma ma ccnc, Feuer wär ick dir jcbcn.« Eine Besonderheit ist auch der Hang des Berliners zu verdoppeln und zu übertreiben : so wird eben neu renoviert und blutiger Ernst gemacht, und wenn ihn keiner lobt, muß er sich eben selber loben. Ist doch kJar: »lck bin der Jrößtc - uns kann kccner!« Und der Berliner verfüge, so Renate Holland-Moritz, über eine gehörige Portion an Schlitzohriglccit. Forderte somit unvermittelt Berta Watcrstradt auf, eine ihrer Geschichten zu erzählen.

dem ein lustiges Gedicht sei. Da es nicht veröffentlicht war, trug ich es vor Gericht vor. Natürlich in gemilderter Form, wofür ich dann nur zweieinhalb Jahre Gefängnis bekam. Im wirklichen Text hieß es u. a. so : >Ja, wir segeln schon drei Jahre auf dem Schiffchen federleicht, doch wir haben das vcrsprochnc Paradies noch nicht erreicht. Und das Kap der guten Hoffnung hängt uns schon zum Halse raus, jedes Eiland, das wir sichten, sieht

Wobei in unserer Runde prompt wieder die Frage gestellt wurde, wie denn eigentlich ein richtiger Berliner sei. Darauf das mit lang anhaltendem Beifall bedachte Schlußwort von Rehling: »Jut!« Die Stammtischgesellschaft Ernst Kahler, Urberliner, Jahrgang 1914, Schauspieler am DT, kam spät mit Muse Thalia in Kontakt. Lernte nach 1946 unter Fritz Wisten , Helene Weige/ und Brecht die berühmten Bretter kennen , inszenierte selbst, schrieb den Geschichtenband »Eine himmlische Rolle", ist Fußballfan und leidenschaftlicher Nichtautobesitzer. Renate Hol/and-Moritz, waschechte Berlinerin, Jahrgang 1935. Seit 1956 beim »Eulenspiegel", wo sie seit 1960 die »Kinoeule" fliegen lq/Jt. Schrieb Geschichten wie »Das Durchgangszimmer", »Grafunda räumt auf"

Wtnn idc. litbt Fritdtrilct, Dir so still btsclltidtn lddct, O. dann dtnkl mtin Haz bti sielt: Dir.st odtr lctint nicll!

EIH Seefahrt, die ist lustig •••

Jttrt is Friütlin1! Ach. wit :Khttn! Jttrt litbt Alltns! Sr.lbst dlt 11iitrt! Jttzl kann idc Dir frti jr.stth 'n. Wal idc län111 im Bustn sJIMrt!

Vokabular scheint unendlich. Man schöpft aus dem Vollen, aus einer Mixtur verschiedenster Nationalsprachen und Dialekte. Diese Einflüsse, darauf verwies Dr. Demps, ob nun aus dem Französischen, Jiddischen, Ober- oder Niedersächsischen, Lateinischen oder Schlesischen, sind noch heute nachweisbar, nur den meisten nicht bewußt. So kommt der Muckefuck vom französischen mocca faux, mit dem sieb die Berliner wegen der drastischen Kaffeezölle aus der Brcdulljc (französisch brcdouillc Pech) halfen und den Bammel (jiddisch - Furcht) vor Entzugserscheinungen nahmen. Kccnc Menkenke (vom Lausitzcr Mengenlee für Gemisch) iss dufte (vom jiddischen tow für gut) und darauf ' n Schluck aus de Pulle (vom lateinischen ampulla)

Achtzchnjährig war Berta Watcrstradt nach Berlin gekommen, lernte durch einen Freund den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller kennen und somit Johannes R. Becher. Ihr erstes Gedicht wurde auch vcröff cntlicht. Den Nazis war sie bald ein Dorn im Auge. »Ich

nach Teufelsinseln aus. Und ein Kannibalcnhäuptling ist der erste Offizier, buntbcfcdcrt, Blech am Hintern, jagt er dort und klettert hier.<« Nach dem Kriege, wie Renate Holland-Moritz ergänzte, habe Berta mit »Die Buntkariertcn« einen der ersten und erfolgreichsten Filme geschrieben und sei als erste Frau mit dem Nationalpreis geehrt worden. »Seht ihr, Kinder«, kam's trocken von Berta, »ich war schon immer die erste.« PreiSYenlächti1es

Ich, Miiusclltn, dtutlidt das Mia11 In Dtintn Blidct lat! Bti Nacll t sind allt Katztn j ra11, Un allt Miinntr böst.

hatte ein Gedicht geschrieben, ein Spottgedicht auf Gocbbcls. Als unser Bund hochging, wurde ich eingesperrt. Einer der Richter sagte, ich hätte ein kommunistisches Gedicht verfaßt. Ich aber verneinte, sagte, daß es kein kommunistisches, son-

Natürlich verschwieg man nicht, daß Rudolf Asmus als erster ausländischer Künstler 1961 diese hohe Auszeichnung erhalten hatte. Auch stellte man fest, daß sämtliche Stammtisch-Stars mit diversen Preisen bedacht wurden. In Heinz BchJing begrüßte man sogar den Stifter des ungewöhnlichen »Eddi«-Prciscs, der jeweils am Freitag, dem 13., überreicht wird. »Bei uns kann eben jeder werden«, so Bebling, »was er will, ob er nun will oder nicht.«

zeit" und »Der Fiedler auf dem Dach". Berta Waterstradt. Als 18jährige kam sie 1925 nach Berlin. Nach dem Krieg halfsie den Rundfunk mitaujbauen, schrieb Hörspiele und Filme. Mit Witz und Gerechtigkeits-

Einst, da litbttn Sit mir, Tobias, Jttzt dh11n Sit mir hasstn, Wdr' idc bti Krödttn tin SdtMpSflas, S it würdtn mir nit rtrlasstn.

fanatismus liebt sie ihr Berlin. Barbara Thalheim , 1948 in Leipzig geboren. Ihr bisheriger Lebensweg ist »schwungvol/I<. Mit ihren Chansons mischt sie sich sensibel und angriffslustig unter die Leute. Es sind Lieder zum Nachdenken. l.Aurenz Demps, Jahrgang 1940. Nach Lehre bei der Reichsbahn, ABF. Studium an der Humboldt-Universität, Aspirantur, Mitarbeit im Anwaltsbüro von Prof. F. K. Kaul, promovierte er 1970 und 1982. Berlin-Geschichte ist sein Hobby; heute ist er Do-

Kltidtmtaclltr, Sit sind scltwäclllidt Majtr, dünn 11nd sthr ztrbttdilidt, E.sstrt Sit sielt, Utbtr, sal/, Dqß man was an lllntn hat!

oder »An einem ganz gewöhnlichen Abend", die auch verfilmt wurden. Heinz Behling, Urberliner, 1920 nahe dem Alex geboren. Machte 1934 seine erste politische Karikatur für den »Roten Stern". Seit vielen Jahren »Eulenspiegel"-Mitarbeiter und leidenschaftlicher Tabakverzehrer. RudolfAsmus, Wahlberliner, Jahrgang 1921. Der singende Erzkomödiant gestaltete viele weltbekannt gewordene Opernpartien, so u. a . in »Das schlaue Füchslein" , »Hoffmanns Erzählungen" , »Sommernachtstraum•, »Ritter Blaubart", »Figaros Hoch-

Wo Dll wtiltsl, dtnlc' an mir! Mtin PrHtrail wmscllwtbt Dir!

zent für Berlin-Brandenburgische Territorialgeschichte und Stadtverordneter in der zweiten Wahlperiode.

Es protokollierte: Joachim Maaß Foto : Bernd Sefzik

NBI 1987

SEITE 118





Souvenirs

NBI 1987

Es zeichneten : Manfred Bofinger, Nabil El-Solami, Heinz Jankofsky, Willi Moese, Wolfgang Schubert. Klaus Vonderwerth

SEITE 119

Related Documents


More Documents from "Vincent Maxera"